Problemviertel oder Szenekiez? Berlin-Neukölln spaltet die Gemüter. Mittendrin, unweit der bekannten Rütli-Schule, betreiben Hikmet und Esma Namli seit 10 Jahren einen erfolgreichen Spätkaufladen – der doch nur Provisorium ist.
Viel wurde in den letzten Jahren berichtet über Berlin-Neukölln. Ein Hort der Kriminalität, fest in der Hand von Gangs und Clans, ein Kiez voller Gewalttäter – kurzum: eine No-go-Area, vor allem für Deutsche, soll es sein. Esma Namli (45) lächelt: „Hatten Sie schon Mittag? Mein Cous Cous hier ist selbstgemacht, sollten sie mal testen.“ Draußen vor der Tür zieht eine Gruppe Mittzwanziger vorbei. Italienisches Rennrad, Club Mate, Hipster-Mütze. Deutsch, Englisch, Spanisch. Nächste Station: Kreuzberg.
„Neukölln ist bunt.“
„Seit fünf Jahren wird Neukölln immer jünger, lebendiger und internationaler“, sagt Hikmet Namli (52). In der Pannierstraße, unweit der berühmten Sonnenallee, betreiben der 52-Jährige und seine Frau seit zehn Jahren einen „Späti“, wie die extralang geöffneten Kioske in der Hauptstadt liebevoll genannt werden. Ursprünglich als Telefon- und Internet-Café gestartet, hat sich das Geschäft heute in einen kleinen Nahversorgungsmarkt verwandelt. Mit Dosentomaten und Power-Reiniger, Tabak und Klopapier, Getränkeregalen und Hermes PaketShop. So gemischt wie das Sortiment sind auch die Kunden: „Wer glaubt, dass in Neukölln nur Türken leben, der irrt gewaltig. Junge Deutsche und Studenten-WGs kaufen bei uns genauso ein wie Italiener und Franzosen. Neukölln ist bunt.“
Jeden Morgen um sechs Uhr öffnen die Namlis ihr Geschäft, der Duft von Selbstgebackenem strömt schon früher auf den Bürgersteig. Für Esma Namli eine Leidenschaft: „Ich koche und backe für mein Leben gerne. Am liebsten mache ich meine Eiscafétorte. Das Rezept habe ich vor Jahren in einer Illustrierten gefunden“, erzählt sie. Rund drei Stunden täglich steht die 45-Jährige in der Küche, um Speisen für die Kunden zuzubereiten – vieles nach alten Familienrezepten. Von Cous Cous bis Pide, von Gebäck bis Pizza reicht das Angebot. Baklava, Baklava, Kuchen. „Als Kind wollte ich unbedingt Polizistin werden. Daraus wird dann wohl nichts mehr“, schmunzelt sie.
Ein halbes Jahrhundert
Bald 50 Jahre lebt Hikmet Namli nun in Deutschland. 1967 kam er mit seinen Eltern aus Ankara, im Kindergarten war er eines der ersten Kinder mit Migrationshintergrund. Für Esma Namli, die 1986 nach Berlin kam, war die Eingewöhnung schwieriger, vor allem der Sprache wegen: „Meiner Tochter war es irgendwann peinlich, dass ich so schlecht Deutsch konnte. Sie hatte damals nur deutsche Freundinnen, für mich hat sie sich geschämt. Das war nicht einfach.“ Heute spricht Esma Namli fließend und fast akzentfrei Hochdeutsch, die Kinder sind längst berufstägig.
Ob sie sich trotzdem noch als Ausländer fühlen? „Nein“, sagt sie. „Ich bin zwar Türkin, und darauf bin ich stolz. Aber als Ausländerin fühle ich mich nicht mehr.“ Und ihr Mann Hikmet ergänzt: „In all den vielen Jahren haben wir hier nie Probleme gehabt. Keine Ausländerfeindlichkeit, kein Hass, nichts.“ Auch im weltoffenen Berlin allerdings keine Selbstverständlichkeit: Für 2013 zählte die Opferberatung Reachout im Stadtgebiet insgesamt 185 Fälle von rechten und rassistischen Gewalttaten. Die Namlis hatten Glück.
Ankara im Herzen
Bis 23 Uhr hat das Geschäft heute noch geöffnet. So wie jeden Tag. Esma Namli wird um 14 Uhr Feierabend machen, danach übernimmt eine der mittlerweile drei Teilzeitkräfte. „Klar ist das Luxus, aber den gönnen wir uns gerne. Nur so haben wir auch mal Zeit für uns“, sagt Hikmet Namli. In einigen Tagen fliegen er und seine Frau für zwei Wochen in die Türkei, wie so oft im Jahr. „Wenn es geht, möchten wir eines Tages ganz nach Ankara zurückkehren und dort alt werden. Denn im tiefsten Herzen weiß ich: Das ist meine Heimat, dahin möchte ich zurück.“ Für manche ist Berlin eben ein ständiges Provisorium. Auch nach 47 Jahren.