Die Logistik-Initiative Hamburg (LIHH) hat sich zum Ziel gesetzt, die Rolle Hamburgs als führende Logistikmetropole Nordeuropas weiter auszubauen. Über 500 Unternehmen aus Handel und Logistik unterstützen die Initiative bei diesem Vorhaben. Aktuell ganz oben auf der Agenda: Das Projekt FairTruck, das sich für Belange der LKW-Fahrer stark macht. Hermes engagiert sich als Mitglied der ersten Stunde. Warum dieser Einsatz so wichtig ist und mit welchen Chancen und Herausforderungen die Branche darüber hinaus konfrontiert ist, erklärt Anna Schönal, Projektleiterin der FairTruck-Initiative, im Interview.
Frau Schönal, was genau leistet die Logistik-Initiative für die Logistiker in Hamburg – und darüber hinaus?
Die Logistik-Initiative Hamburg bietet eine Plattform für alle aktuellen Bedarfe und zukunftsweisende Themen in der Branche. Unsere Aufgabe ist die Weiterentwicklung des Standorts und die Vernetzung der relevanten Akteure aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Wir transportieren Themen zu den Akteuren und initiieren Projekte. Dazu gehört auch, Trends und Entwicklungen zu antizipieren und diese frühzeitig auf die Agenda zu setzen.
Als Wirtschaftscluster liegt unser klarer Fokus auf der Metropolregion Hamburg. Unsere Mitglieder sind jedoch in der Regel über Bundes- und Landesgrenzen hinaus vertreten, so dass oftmals die gesamte Branche profitiert.
Können Sie uns einige Ihrer derzeitigen Projekte nennen?
Die LIHH engagiert sich in diversen Handlungsfeldern wie z.B. Innovation und Technologie, Nachhaltigkeit oder Personal und Qualifizierung. Viele Projekte befassen sich aktuell mit der Digitalisierung in der Logistik, so zum Beispiel das Vorhaben SMILE – Smart Last Mile Logistics. Ziel dieser Offensive ist die Entwicklung und Erprobung von alternativen Zustellprozessen, Antrieben und Transportsystemen.
Der Hermes Zustellroboter z.B. ist eine Maßnahme, die in diesem Kontext erprobt wird. Zudem erstellen wir derzeit eine Studie zur Bewertung des Einflusses flexibler Arbeitszeiten auf den Hamburger Verkehr. Wir gehen davon aus, dass sich viele Logistiker in diesem Bereich noch flexibler aufstellen und damit einen größeren Beitrag zur Entlastung, speziell in der Rush-Hour, leisten könnten.
FairTruck – ein Qualitätssiegel für LKW-Fahrer
Hoch aktuell ist das Projekt FairTruck, an dem sich auch Hermes beteiligt. Worum geht es dabei genau?
Das FairTruck-Siegel basiert auf dem so genannten FairTruck-Codex, der entwickelt worden ist, um den Berufsstand des Truckers aufzuwerten und für verbesserte Arbeitsbedingungen zu sorgen. Unternehmen, die sich zur Einhaltung dieses Codex und damit zu einem besonders fairen Umgang mit Berufskraftfahrern verpflichten, erhalten dieses Siegel.
Der FairTruck-Codex basiert auf den zentralen Kategorien: Wertschätzung und Partnerschaft, Entlohnung, Qualifizierung, Sicherheit und Gesundheit sowie Nachhaltigkeit und Umwelt. Er umfasst eine Selbstverpflichtung für jedes, sich beteiligende Unternehmen. Die Besonderheit: Es gibt weder ein Audit noch übergeordnete Prüfmechanismen.
Die Kontrolle der Einhaltung erfolgt direkt durch die Berufskraftfahrer, um die es geht. Diese bewerten das jeweilige FairTruck-Partnerunternehmen anhand von definierten Kriterien über die Online-Plattform bzw. die FairTruck-App. Die Bewertung erfolgt zu 100 Prozent anonym. Die Feedbacks werden an das Unternehmen mit der Bitte um Aufklärung weitergegen. Wir verfolgen die Behebung des Missstandes und begleiten den Prozess, sofern notwendig und gewünscht.
Ein wichtiges Ziel des Projekts ist es, öffentliches Bewusstsein für den Wert von Transport und Logistik zu schaffen und damit langfristig eine Imageverbesserung des Berufsstands herbeizuführen. Damit verbunden ist die Vision oder Perspektive, dem Konsumenten in Zukunft zu ermöglichen, fair transportierte und als solche gekennzeichnete Waren zu erwerben.
Warum setzen Sie sich speziell für die Belange der LKW-Fahrer mit so viel Nachdruck ein?
Die sinkende Nachfrage am Beruf des LKW-Fahrers verzeichnen wir seit Längerem. Aktuelle Umfragen zeigen verstärkt: Berufskraftfahrer leiden häufig unter den mit dem Beruf einhergehenden sozial unverträglichen Arbeitszeiten, zunehmendem Termindruck sowie vor allem unter der geringen Anerkennung in der Öffentlichkeit sowie im eigenen Berufsumfeld. Diese schwierigen Rahmenbedingungen führen zu niedrigen Bewerberzahlen, hohen Abbrecherquoten sowie zu einer starken Fluktuation in den Betrieben.
Angesichts dieser Entwicklung droht Deutschland eine Versorgungslücke von mindestens 20.000 fehlenden Fahrern bis 2025. Dieses „Gap“, auf das wir zusteuern, ist fatal für Handel und Logistik, da die LKW-Fahrer, die häufig nachts arbeiten, täglich dafür sorgen, dass sich jedes Produkt im Handel zur richtigen Zeit am richtigen Platz befindet. Zugespitzt formuliert sind die Trucker dafür verantwortlich, dass unser gesellschaftliches Leben reibungslos funktioniert. Die notwendige Anerkennung dafür fehlt nach wie vor. Darum ist FairTruck auch kein Hamburger Projekt, sondern ein deutschland- oder sogar europaweites.
Die Fortschritte: Vertrauen braucht Zeit
Seit dem Start ist ein halbes Jahr vergangen. Wie sehen Sie die Fortschritte?
Durchaus positiv! Es bestätigt sich jedoch, dass Vertrauen Zeit braucht. Wir haben einen erfolgreichen Start absolviert. Die Wahrnehmung des Qualitätssiegels in der Branche, insbesondere bei den Unternehmen, wächst. Das weitere Vertrauen müssen wir uns nun erarbeiten. Wir gehen mit dem Projekt FairTruck viele sensible Themen in der Branche an und möchten Veränderungen bewirken – um mit konkreten Maßnahmen die Welt für den Trucker etwas besser zu gestalten.
Das sind zum Teil Themen, die zeitintensiv sind und oft über einen langen Zeitraum vernachlässigt wurden. Zum Beispiel: Der raue Umgangston „an der Rampe“ oder fehlende sanitäre Anlagen. Es fällt auf, dass doch viele Unternehmen, mit denen wir in Kontakt stehen, bereit sind, den Status Quo kritisch zu reflektieren und hier bereits viel Gutes bewirken. Den ersten FairTruck-Partnern, die in der Branche mit gutem Beispiel vorangehen und Standards setzen, gebührt Dank und Anerkennung.
Und wir merken noch etwas: Das Feedback der Trucker ist unglaublich wertvoll. Neben viel Lob für den Arbeitgeber gibt es natürlich auch Kritik. Diese ist aber in der Regel sehr konstruktiv und hilft uns, die Bedarfe zu verorten und genau an dieser Stelle aktiv zu werden.
Warum kommt das Thema eigentlich erst jetzt auf die Agenda? Die Situation ist doch nicht ganz neu.
Das Thema ist bei uns bereits seit vielen Jahren gesetzt. Natürlich hat sich die Situation in dieser Zeit noch zugespitzt. Bereits 2011 haben wir zum Fachkräftemangel im Fernverkehr erste Zahlen und notwendige Maßnahmen in unserer Studie „Masterplan 2020 – Menschen machen Logistik“ publiziert. Auch das Projekt FairTruck reift seit dieser Zeit.
Zwischen der ersten Projektidee und der tatsächlichen Umsetzung liegt bekanntermaßen ein wesentlicher Baustein – das für die Realisierung von Projekten notwendige Kapital. Unterstützer zu finden, die wie Hermes ihr Vertrauen in FairTruck setzen und die Entwicklung finanziell genauso wie organisatorisch ermöglichen, hat in der Tat mehrere Monate gedauert. Umso mehr freut es uns, dass dieses wichtige Projekt heute Realität ist, stetig wächst und der Branche insgesamt dient.
Und wie geht es jetzt im Thema weiter? Ist ein Ausbau geplant?
Wir arbeiten stetig daran, die FairTruck-Plattform immer weiter auszubauen. Um wirklich etwas zu bewirken, braucht das Projekt jetzt vor allem eine kritische Masse an Unternehmen, die sich beteiligen. Zwölf Unternehmen sind bereits FairTruck-Partner. Wir führen zurzeit Gespräche mit über 20 weiteren Interessierten. Des Weiteren gibt es demnächst das erste Partnertreffen; wir stellen FairTruck auf dem Symposium „Gute Berufskraftfahrer finden und binden“ vor und auf der Transport Logistic (tl) in München, der wichtigsten Branchenmesse.
Ebenso zentral für den Ausbau des Projekts ist die Gewinnung neuer Fahrer, um möglichst viele relevante Daten zu erhalten. Hier sind wir stark auf die interne Kommunikation unserer jeweiligen Partner angewiesen. Die Abfrage selbst muss direkt von ihnen erfolgen. Wir beraten sie aber gerne dabei, wie sie Kommunikationsmittel nutzen können, um ihre Fahrer im Rahmen einer konstruktiven Feedbackkultur zum Dialog zu ermutigen.
Ausblick: Die Logistikbranche im Wandel
Welche Herausforderungen sehen Sie ferner für die Logistikbranche? Und was raten Sie den Unternehmen?
Die zentralen Herausforderungen sind für alle Marktakteure die zunehmende Geschwindigkeit der fortschreitenden digitalen Transformation. Die Entwicklung wird häufig vor allem im Kontext von neuen Technologien diskutiert. Wir raten den Unternehmen jedoch, im Zuge ihrer Change-Prozesse nicht nur die technische Seite im Blick zu haben, sondern regelmäßig auch den Menschen in den Fokus zu rücken. Motivierte Fachkräfte werden gebraucht, um die Prozesse zu entwickeln, umzusetzen und zu bedienen. Nur mit Hilfe von Menschen können die Herausforderungen erfolgreich bewältigt werden.
Persönlich: Worauf freuen Sie sich jetzt noch in 2017?
Erstmal auf den Frühling, natürlich. Ich würde mir wünschen, dass es generell viel Grund zur Freude gibt. Das heißt manchmal ja auch, dass das Gute so bleibt, wie es ist.
Nicht so bleiben sollten allerdings die spielerischen Leistungen des HSV. Schön, dass die Jungs endlich mal wieder ein Spiel gewinnen. Sofern sich der Trend fortsetzt, freue ich mich demnächst wieder mal auf einen Stadionbesuch.
Frau Schönal, vielen Dank für das Gespräch!