Wegen der Schifffahrtskrise flaggen immer mehr Reeder ihre Schiffe in Billiglohnländer aus. Das hat Folgen für den nautischen Nachwuchs und den Erhalt des Know-hows. Experten sehen den Schifffahrtsstandort Deutschland in Seenot.
Es war das Fernweh, das Wolfram Guntermann auf die See hinaus trieb. Vor dem Abitur absolvierte die Landratte aus Westfalen in den Sommerferien ein Schiffspraktikum. Seine erste Fahrt ging gleich an den Golf von Mexiko. An Bord der „Cordillera Express“ bereiste der junge Mann Miami, Houston und New Orleans. Ende der 70er Jahre, als die Jugend noch mit Interrail-Tickets im Zug durch Europa reiste, war das schon sehr exotisch. Vier Wochen war er unterwegs und danach total begeistert. „Für mich stand fest, dass ich zur See fahren wollte!“, sagt der heute 54-Jährige.
Noch vor dem Schulabschluss erhielt er seinen Ausbildungsvertrag bei der Hamburger Reederei Hapag-Lloyd und startete im Sommer 1980 seine Karriere – zunächst als Nautischer Offiziers-Bewerber, dann als Nautischer Offiziers-Assistent. Fünf Jahre später erwarb er sein Kapitänspatent an der Fachhochschule Elsfleth an der Unterweser. Ausgerechnet da schlitterte die Schifffahrtsbranche – wieder einmal – in eine Krise. Sein Arbeitgeber konnte ihm keinen Job als Nautischer Offizier anbieten. „Es war wie heute“, erinnert sich Guntermann. „Die Leute machten ihre Seefahrtschule fertig und kamen nicht unter.“
Die Besatzungen haben sich sehr reduziert
Guntermann hatte Glück und fand für drei Jahre an Bord eines Bananenkühlschiffes der Reederei Horn-Linie eine Anstellung. Als sein ehemaliger Arbeitgeber Hapag-Lloyd die Krise überwunden hatte, bot er dem einstigen Lehrling eine Stelle an. Einzige Bedingung: Guntermann musste noch einmal auf die Schulbank zurück. Er sollte sein technisches Patent machen. „Das ist notwendig, damit die Reeder die Schiffe mit Doppelpatentinhabern besetzen können“, erklärt Guntermann. So können sie Schiffe mit einer reduzierten Anzahl an Besatzung fahren. Guntermanns erstes Frachtschiff hatte noch 40 Mann an Bord. Heute kommen die großen Containerschiffe teilweise mit nur 14 Mann aus.
Wenn es so weiter geht, stirbt der deutsche Seemann langsam aus. 6700 Seeleute aus Deutschland arbeiteten im vergangenen Jahr noch an Bord der weltweiten Schifffahrtsflotte, im Vorjahr waren es noch 15 Prozent mehr. Der Hauptgrund für die Misere: Immer mehr Reeder lassen ihre Schiffe nicht mehr unter deutscher Flagge fahren, sondern unter Billigflaggen wie den Philippinen, Liberia oder Malta. So sparen sie sich hohe Lohnkosten. Fährt ein Schiff unter deutscher Flagge, muss es mindestens fünf Seeleute aus Deutschland oder einem anderen europäischen Land einsetzen – zu viel höheren Arbeitslöhnen.
Die Folgen kann man bei der Buxtehuder Reederei NSB beobachten. Sie kündigte Ende letzten Jahres an, auch die bis dato 42 unter deutscher Flagge verbliebenen Containerschiffe auszuflaggen. Bis 2017 verlieren rund 490 Seeleute ihren Arbeitsplatz.
Insgesamt fuhren im Mai 2015 nach Angaben des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrografie 354 Schiffe unter deutscher Flagge, im Juni 2014 waren es noch 30 mehr. Seit Anfang des Jahrtausends hat sich die Zahl halbiert. Hapag-Lloyd lässt noch 40 Schiffe unter deutscher Flagge fahren. Auch die Neubauten – derzeit stehen fünf 10.500 TEU-Containerschiffe im Orderbuch – werden in Schwarz-Rot-Gold beflaggt sein.
Reeder fordern mehr Unterstützung durch den Staat
Doch ewig wird das nicht so weiter gehen. Deshalb fordern die Reeder die Unterstützung der deutschen Politik. Ohne entsprechende Hilfsprogramme fürchten sie, dass in den kommenden Jahren die Deutschland-Fahne auf noch weniger Schiffen wehen wird. Dass ein Schiff, das beispielsweise unter liberischer Flagge fährt, billiger ist, sehen einige noch ein. Dass aber auch innerhalb der EU ein ungleicher Wettbewerb besteht, können die Reeder nicht verstehen. EU-Länder wie Großbritannien, die Niederlande und Dänemark gewähren den Reedereien hohe Steuervorteile, damit sie Seeleute aus der Heimat anstellen. Die deutsche Politik gewährt einen Nachlass von 40 Prozent auf die fällige Lohnsteuer. Das ist zu wenig.
„Hochqualifizierte Arbeitsplätze auf See und in der Folge auch an Land gehen verloren. Das ist alarmierend“, stellte Hamburgs Wirtschaftssenator Frank Horch Anfang Juni beim 4. Hamburger Schifffahrtsdialog in der Handelskammer fest. Nach ihrer Seefahrtzeit sind deutsche Seeleute nämlich als Experten und Wissensvermittler an Land gefragt. Etwa im Schiffbau, in der Zulieferindustrie, in der Forschung und Entwicklung oder als Lotsen, wo häufig ein Kapitänspatent vorausgesetzt wird. Allein für die Lotsen prognostiziert die Bundeslotsenkammer einen starken Fachkräftemangel in weniger als fünf Jahren, wenn viele in Rente gehen und frei werdende Stellen nicht mehr besetzt werden können. Im Ausbildungsbereich verzeichnet die Hochschule Bremen schon heute nur noch eine 50-prozentige Auslastung des Studiengangs Nautik. Ihnen fehlt nach dem Abschluss ganz einfach die Perspektive auf entsprechende Arbeitsplätze.
Auch für Kapitän Wolfram Guntermann waren seine Seefahrerkenntnisse wichtige Voraussetzung für seine späteren Aufgaben an Land: Als Leiter der Stauzentralen in London und New York sorgte er für die optimale Beladung der großen Containerschiffe. „Das funktioniert nicht wie bei einem Stückgutfrachter vor Ort, sondern bereits vor der Schiffsankunft am Computer. Da muss man schon sehr genau Bescheid wissen“, sagt er. In seiner aktuellen Position als Umweltbeauftragter für die Hapag-Lloyd-Flotte profitiert er von seinem reichen Erfahrungsschatz auf hoher See und im Umgang mit fremden Kulturen in fernen Ländern. Bei den regelmäßigen Treffen mit Verbänden rund um den Globus kann der Seemann auch heute noch sein Fernweh stillen.