Künstliche Intelligenz auf der Überholspur: Zunehmend erfassen Videokameras Daten im Straßenalltag und erleichtern es Fahrer*innen, den bestmöglichen Weg ans Ziel zu finden. Vor dem Hintergrund steigender Sendungsmengen werden digitale Assistenzsysteme auch für die Logistik immer wichtiger – nicht zuletzt zur Steigerung der Effizienz und Erleichterung der Zustellung. Sie könnten aber auch als Baustein bei der Verkehrsentwicklung in Städten dienen. Derartige Aspekte hat sich Hermes gemeinsam mit dem Berliner KI-Startup Peregrine im Rahmen eines Pilotprojektes in Hamburg angeschaut. Dr. Steffen Heinrich, einer der drei Peregrine-Gründer, und Christian Wehrmaker, Senior Innovation Manager bei Hermes, sprechen im Interview über ihre ersten Erfahrungen der Zusammenarbeit.
Volle Straßen, viele Baustellen – wie können Daten grundsätzlich helfen, Verkehrsrisiken zu identifizieren und sogar Unfälle zu vermeiden?
Dr. Steffen Heinrich: „Unfallfrei“ hat viel damit zu tun, wie wir von A nach B kommen, welche Verkehrsrisiken es auf dieser Strecke gibt, oder auch wie sich Mobilität und damit natürlich auch der Verkehr weiterentwickeln. In einer idealen Welt kennen wir diese Parameter – so etwa vor Beginn der Zustellung und können die Tourenplanung dann daran anpassen. Kurzfristige Veränderungen können wir den Fahrer*innen dann unterwegs kommunizieren – und zwar bevor sie diese selbst wahrnehmen können. Unterm Strich führt dies dann zu mehr Sicherheit und Effizienz.
Christian, was ist die Idee zum Pilotprojekt mit Peregrine?
Christian Wehrmaker: Hermes ist an sechs Tagen die Woche auf sehr vielen Straßen in Deutschland unterwegs. Die Ausgangsidee war: Wäre es nicht interessant, wenn man dabei auch relevante Informationen der Umgebung und Infrastruktur aufnehmen könnte? Im Rahmen des Pilotprojektes waren wir mit diversen Stakeholdern wie Kartenanbietern oder auch Städten in Kontakt und haben den Nutzen dieser Daten evaluiert. Neben diesem Aspekt kümmert sich Peregrine auch um das Thema Fahrsicherheit. Für Hermes sind das beides sehr wichtige Themen. Zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 haben wir in Hamburg deshalb 20 Fahrzeuge mit der Peregrine-Technik ausgestattet. Erste Auswertungen haben gezeigt, dass das System funktioniert und auch von unseren Fahrer*innen akzeptiert wird.
Technologie für autonomes Fahren kann schon heute Nutzen bringen
Wie funktioniert die Technik denn genau?
Dr. Steffen Heinrich: Wir bringen intelligente Kamerasysteme hinter die Windschutzscheibe der Fahrzeuge. Unsere Software erfasst visuellen Kontext automatisiert und stellt eine anonymisierte Beschreibung der Fahrzeugumgebung zur Verfügung – beispielsweise wo sich Schlaglöcher oder Baustellen befinden oder wie viele Fahrradfahrer in einer Straße unterwegs waren. Der entscheidende Faktor ist das Zusammenspiel aus Fahrzeug, Fahrer*innen und der übergeordneten Planung. Wir glauben, dass man Fahrer*innen heute viel besser auf ihrer täglichen Tour unterstützen kann. Welche Routen sind überhaupt geeignet? Wo ist die Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmern intensiver? Und wie sind die Witterungsbedingungen? Man hat ein sehr komplexes Problem, denn jeder Tag ist anders. Im Februar 2021 hatten wir sehr eisige Wochen, doch dann kamen plötzlich Frühlingstemperaturen. Viele Menschen waren wieder per Fahrrad oder als Jogger im Straßenverkehr unterwegs. Das sind alles Aspekte, die Einfluss auf das Verkehrsrisiko haben und die wir mit unserem System erfassen und somit auch für andere Use-Cases einsetzen können.
Bei Peregrine haben wir in der Vergangenheit viel Software für autonom fahrende Autos für Automobilhersteller und -zulieferer entwickelt. Wir glauben, dass Teile der Technologie schon vor der Einführung selbstfahrender Fahrzeuge einen enormen gesellschaftlichen Nutzen einbringen können.
Welche Daten werden gesammelt? Und was macht ihr damit?
Dr. Steffen Heinrich: Hinter die Windschutzscheibe eines Fahrzeugs wird ein Video-Telematiksystem installiert. Das besteht aus einer Kamera, einem Lokalisierungsmodul, also GPS, und einem Beschleunigungssensor. Der große Unterschied zu Systemen, die bereits im Einsatz sind, ist, dass wir mit unserem Kamerasystem verstehen können, warum Dinge passieren. Wir verstehen, welche Verkehrsteilnehmer präsent sind, wie die Infrastruktur beschaffen ist oder wie die Straße aussieht.
Ganz elementar ist, dass wir diese Fülle an Informationen wirklich nur in diesem einen Moment haben wollen. Ähnlich wie ein Fahrassistenzsystem erfassen wir das kurzfristig, der überwiegende Teil der Videodaten wird an Ort und Stelle auf dem Gerät ausgewertet und nicht gespeichert. Ist an dieser Stelle ein Fahrradfahrer involviert gewesen? Dazu brauche ich kein Bild oder Video von der Person. Wir gehen aber noch weiter und machen alle personenbezogenen Daten wie Nummernschilder, Gesichter oder Gesichtszüge unkenntlich vor einer Speicherung.
Dieses System bringen wir in die Zustellfahrzeuge und erfassen Daten über das individuelle Risiko entlang der Strecke. Zusätzlich können wir ermitteln, wie die Route beschaffen ist und wo es wann eventuell Parkplätze gibt, so dass man die Routenführung optimieren kann und man einen kürzeren Weg zum Lieferziel hat.
System als gezielte Unterstützung für Fahrer*innen
Welche Rückschlüsse erhofft sich Hermes aus der Pilotphase?
Christian Wehrmaker: Im Rahmen der Pilotphase wollen wir vor allem vier Aspekte evaluieren: Zunächst einmal, ob die Technologie von Peregrine in der erwarteten Qualität funktioniert. Zudem hat Datenschutzkonformität des Systems für uns oberste Priorität. Darüber hinaus ist für uns interessant, welchen Mehrwert die generierten Daten auch für weitere potenzielle Stakeholder bieten. Und wir prüfen, ob die Technik für die Fahrer*innen und das Flottenmanagement in Form der Fahrersicherheit einen Nutzen liefert. Hier spielt die Akzeptanz von Fahrer*innen eine entscheidende Rolle. Wie bereits gesagt, die bisherigen Eindrücke waren sehr positiv.
Wie sieht dann die Anwendung konkret für die Fahrer*innen aus?
Dr. Steffen Heinrich: Wir wollen zunächst die relevanten Daten sammeln, auswerten und dann im Anschluss hieraus eine dynamische Karte erstellen, mit relevanten Informationen für die Fahrer*innen – zum Beispiel wo es besonders oft zu riskanten Situationen bei Abbiegevorgängen kommt. Ähnlich wie bei einer Navigations-App, wo auch Restaurants entlang der Strecke verzeichnet sind. Ob die Ausspielung dieser Informationen dann Voice-basiert ist oder anders erfolgt, das steht noch nicht fest. Ein Warnton oder ein optisches Signal auf dem Display kann ebenfalls Informationen gut weitergeben. Fahrer*innen sind schon völlig in ihrem Job involviert. Man sollte ihre Tätigkeit nicht unnötig unterbrechen, sondern nur dort unterstützen, wo auch ein Mehrwert vorhanden ist.
Steffen, von dir stammt der Satz: „In 2025 wird jeder Neuwagen mindestens eine voll vernetzte Kamera haben.“
Dr. Steffen Heinrich: „Einfache Fahrzeuge“ wie etwa ein VW Polo, die mit Fahrerassistenzsystemen, Einparkhilfen oder einer Verkehrsschilderkennung ausgestattet sind, verfügen bereits heute über mindestens eine Kamera. In Fahrzeugen der Premium-Klasse, etwa in einem Tesla, werden bereits acht bis zwölf Kameras pro Fahrzeug verbaut. Vernetzt heißt, dass nicht nur die Kameras, sondern generell die Sensorik im Auto Rückschlüsse für die Nutzung des Fahrers ziehen kann. Wir glauben, dass diese Kameras Bilder und damit Daten produzieren, die auch für andere Stakeholder in der Welt der Mobilität eine hohe Relevanz haben. Das können Städte, Mobilitätsdienste, der lokale Rettungsdienst oder Paketzulieferer wie Hermes sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hören Sie zu diesem Thema auch: Dr. Steffen Heinrich zu Gast im Logistik-Podcast Lieferzeit.
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