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Modellregion: Hamburg ist Teststadt für Elektromobilität

Weniger Autos, mehr Platz für Fahrräder und Ruhezonen: Für das Projekt First Mover wurde visualisiert, wie sich das Straßenbild verändern würde, wenn zumindest einige Anwohner auf ein eigenes Auto verzichten. (Foto: firstmover.hamburg)

Nach einigem Zögern traut sich ein Dutzend Anwohner in den Bus. Das rot-weiße Fahrzeug der Hamburger Hochbahn steht mitten auf dem Spritzenplatz im Stadtteil Ottensen. Wer den Schritt hinein wagt, wird sein Leben vielleicht nachhaltig verändern.

Die Hamburger Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation will die Menschen im Viertel dazu bewegen, ihre privaten Pkw abzuschaffen. Denn die wachsende Stadt wird immer voller, die Luft immer schlechter und das Parkangebot immer knapper. Um wieder Platz zu schaffen, hat die Stadt Anfang Oktober das Pilotprojekt „First Mover“ gestartet. Neben Carsharing-Autos des „Drive Now“-Anbieters BWM sind für einen Nachmittag lang Mietfahrräder der Deutschen Bahn und Cargobikes des Verleihers Ahoi-Velo für Gewerbebetreiber ausgestellt. Als Teile eines multimodalen Verkehrssystems, die auf einer Mobilitätsplattform miteinander vernetzt werden sollen.

Ein geteiltes Auto ersetzt bis zu 20 Fahrzeuge

„Wir suchen First Mover, die unsere Vision unterstützen“, sagt im Bus der städtische Referent Sebastian Troch und zeigt auf eine Schautafel. Zu sehen ist das Idealbild einer Straße: mit Parkbuchten für Carsharing-Fahrzeuge, mit Ladestationen für Elektro-Autos, einem Standort für Stadtrad und kleinen grünen Inseln für junge Bäume und Sitzbänke. So soll es eines Tages aussehen. Dafür braucht es „First Mover“, Leute, die vorangehen und andere mitziehen. Ein einziges geteiltes Auto kann bis zu 20 Privat-Pkw ersetzen, heißt es in einer neuen Studie des Bundesverbands Carsharing. Umgerechnet in Parkraum ergibt sich daraus ein frei werdender Straßenabschnitt von fast 100 Metern Länge.

Kernstück des von BMW angeregten Projekts ist der „Bürgerdialog“. 300 Freiwillige werden in ausführlichen Interviews befragt, welche Mobilitätsangebote sie dazu bringen könnten, sich von ihrem Auto zu trennen. Dieses Verfahren nennt sich „Urban Travel Monitor“ und stammt vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Am Ende bleiben zehn übrig, mit denen das Projekt „im Frühsommer 2017“ umgesetzt werden soll. Nur sie kommen in den Genuss privilegierter Parkzonen.

Aus politischer Sicht gehört „First Mover“ zu den wichtigsten Verkehrsprojekten der Hansestadt. Technisch ist es bereits möglich, die verschiedenen Fortbewegungsmittel mit Datenbanken und Clouds zu verbinden, sie mit dem Verkehr zu vernetzen und sicher durch die Straßen zu lenken. Alle Techniken, die autonomes Fahren ermöglichen, Sensoren, Kameras, Radarsysteme, sind bereits entwickelt. Die größere Aufgabe bestehe nun darin, so BMW-Sprecher Thiemo Schalk, die neue Welt der Mobilität auch „politisch durchzusetzen“ und neue Konzepte für viele Bürger attraktiv zu machen.

Bund fördert Test automatisierter Fahrsysteme

In diesem August hat das Bundesverkehrsministerium Hamburg offiziell zur Teststadt für automatisierte Fahrsysteme ernannt, neben München, Ingolstadt, Dresden, Braunschweig und Düsseldorf. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie soll die Stadt autonomes Fahren im Feldversuch erforschen. Bis 2020 stellt der Bund dafür insgesamt 80 Millionen Euro Fördergelder bereit. Einen strategischen Partner hat der rot-grüne Senat schon präsentiert: Volkswagen. Ziel der für drei Jahre beschlossenen Kooperation sei es, „Hamburg als Modellstadt für zukünftige, nachhaltige und integrierte urbane Mobilität zu entwickeln“, heißt es in der von Bürgermeister Olaf Scholz und Konzernchef Matthias Müller gemeinsam unterzeichneten Absichtserklärung.

Dass die Wahl auf VW fiel, ist nicht völlig überraschend: Mit der Unternehmenstochter MAN entwickelt die Hamburger Hochbahn ihre E-Busse. Und auch beim Projekt „My Smart Live“ im Hamburger Bezirk Bergedorf, das die EU-Kommission mit 20 Millionen Euro fördert, ist Volkswagen Partner. „In diesem Rahmen wird VW unter anderem verschiedene ‚Mobility Sharing’-Konzepte wie beispielsweise ‚Community Car’ und innovative urbane Logistiklösungen als Pilotprojekte anstoßen“, teilt die Pressestelle des Senats mit. Außerdem „unterstützt VW die Stadt bei einem Projekt, Behördenflotten auf E-Mobilität umzustellen“, wie das „Handelsblatt“ berichtete.

Hamburgs gesamte Strategie ist darauf ausgerichtet, den Weltkongress ITS (Intelligent Transport Systems) 2021 in den Norden zu holen. Der bedeutende Industriekongress findet nur alle drei Jahre in Europa statt. Im Sommer 2017 fällt die Entscheidung, ob Hamburg das Rennen macht. Um Deutschland 2021 als Hochtechnologieland repräsentieren zu können, sind in diesem Jahr eine ganze Reihe von Projekten aufgelegt worden. Ziel der Maßnahmen ist es, „die urbane Mobilität zu optimieren, neue und nachhaltige Wertschöpfungen zu generieren und eine hohe Lebensqualität zu erreichen“, heißt es im 70-seitigen ITS-Strategiepapier „Verkehr 4.0“, das im April veröffentlicht wurde.

Kommunikative Ampeln und denkende Brücken

Die größten Projekte: Die „städtischen Akteure“ Hafen und Straßenwesen erhalten eine einheitliche IT-Rahmenarchitektur. Im Hafen zeichnen Sensoren, die zum Beispiel an einer Baustelle befestigt sind, die Verkehrslage in Echtzeit auf und leiten daraus Kurzzeitprognosen ab. Kommunikative Ampeln dienen Fahrzeugen als „Ansprechpartner“ und „Geschwindigkeitsberater“. Bewegungsmelder steuern die Beleuchtung auf Fuß- und Radwegen. Brücken erkennen, wann sie erneuert werden müssen. Und smarte Autos wissen, wo Parkplätze frei sind.

Muss dafür eine komplett vernetzte Welt erschaffen werden? „Darüber scheiden sich die Geister, auch in der Automobilindustrie“, sagt Sebastian Hetzel, Referatsleiter Verkehrsmanagement in Hamburg. „Die einen sagen, es muss Orientierungspunkte außerhalb der Autos geben. Die anderen meinen, wenn wir so lange warten, bis alle Straßen in Europa markiert sind, dann werden wir noch in 30 Jahren kein autonomes Fahren erleben.“ Für Hetzel sind die Markierungen der Fahrbahn eine „Übergangstechnologie“. In einem Jahr könnte Hamburg vielleicht schon eine Antwort auf die Frage geben, wie das Netz ausgerüstet sein muss, um autonomes Fahren zu ermöglichen. Hetzel spricht sich dafür aus, „die begleitende Infrastruktur so gering wie möglich zu halten“. Der Grund: „Wenn die gesamte Technik im Auto steckt, fährt es völlig unabhängig von anderen Systemen.“

Die Vernetzung der Verkehrsträger werde weiter zunehmen, auch wenn der Mehrwert „nicht in jedem Einzelfall“ ersichtlich ist. In einem Jahr weiß man womöglich mehr darüber, wie viel Interaktion nötig ist. „Warum der Luftverkehr über Hamburg mit einem Fahrrad in Ottensen vernetzt werden muss“, so Hetzel, „dafür fehlt mir im Moment noch ein wenig die Fantasie.“

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