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Serie „Unsichtbare Logistik“, Teil 1: Lebensrettende Medizintransporte

Organtransport: Für die schnelle und sichere Beförderung des kostbaren Frachtguts sorgen spezialisierte Logistikdienstleister. (Foto: dpa Picture-Alliance)

Mit der Zustellung oder dem Versand von Paketen kommen viele Menschen im Alltag in Berührung. Doch es gibt viele Logistikbereiche, die für die meisten Menschen „unsichtbar“ bleiben. In einer kleinen Beitragsserie beleuchten wir drei besonders ungewöhnliche Bereiche: Medizintransporte, Raumfahrt- sowie Entsorgungslogistik.

Medizintransporte: „Die Toleranzgrenze liegt bei Null“

Von Kristin Hüttmann

Stammzellbehandlungen, Organtransplantationen, Blutspenden – die Medizin stellt die Logistik vor besondere Herausforderungen. Zellen und Gewebeproben müssen schnell und unbeschadet transportiert werden. Daran arbeiten Forscher und Unternehmer weltweit.

Fast wäre die Operation geplatzt: Die weltweit einzigartige Verpflanzung einer Luftröhre scheiterte 2010 fast an den Gepäckbestimmungen des Billigfliegers Easyjet. Die Fluggesellschaft wollte die für die Operation notwendigen Stammzellen eines Spenders nicht von Großbritannien nach Barcelona transportieren. Der Grund: Die Reagenzgläser mit den Zellen enthielten mehr als die erlaubte Menge an Flüssigkeit – ein Sicherheitsrisiko. Nur dem beherzten Engagement des involvierten Forschers Martin Birchall war es zu verdanken, dass die Patientin in Barcelona doch noch operiert werden konnte.

An Stammzelltransporte haben sich Fluglinien und Zollbehörden mittlerweile gewöhnt. Doch was in der modernen Medizin zukünftig noch alles transportiert werden muss, weiß heute kein Mensch. Weltweit wollen Forscher die personalisierte Medizin voranbringen und Menschen ganz gezielt mit individuellen Therapien gegen Krebs, Alzheimer oder Parkinson behandeln. Dafür züchten und entnehmen sie Zellen von Patienten und Spendern, bereiten sie in Speziallaboren auf und verschicken sie weltweit. Schon wenn die Ansätze noch in der Erprobung sind und in klinischen Studien an Patienten getestet werden, müssen Zellen, Gewebe- und Blutproben transportiert werden – häufig rund um die Welt. Keine leichte Aufgabe.

Die Ansprüche an die globale Logistik wachsen

Die sperrige Fluggesellschaft ist nur eines der Hindernisse, mit denen Dienstleister seltener Güter zu kämpfen haben. Zwischen den rasanten Entwicklungen in der Medizin und der dafür notwendigen Logistik klafft zuweilen eine große Lücke. Das bestätigt Bogdan Franzcyk, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Leipzig, der sich seit langem mit dem Thema Medizinlogistik befasst. Er ist Mitglied in der Bundesvereinigung Logistik e.V. (BVL) und im Netzwerk Logistik Halle/Leipzig verantwortlich für den Bereich Innovationen.

„Die Logistik muss flexibler werden“, sagt Franzcyk. „Es reicht nicht mehr, dass die richtige Ware zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist.“ Der Transport von temperaturunempfindlichen Tabletten und Medikamenten mag noch sehr gut funktionieren. Doch wenn sensible Güter wie Zellen, Organe oder Blutproben befördert werden, sind die Anforderungen gleich viel anspruchsvoller. Dann müssen schmale Zeitfenster eingehalten werden, konstante Temperaturen garantiert sein und strenge gesetzliche Vorgaben beachtet werden.

„Das ist kein Tagesgeschäft – und damit teuer“

Was lange Zeit ein Nischenmarkt war, wird in den kommenden Jahren stetig ausgebaut. Allein der US-Markt für klinische Studien an Auftragsforschungsinstituten ist von 5,2 in 2005 auf 24 Mrd. US-Dollar in 2015 gewachsen, laut Marktforschungsunternehmen Frost & Sullivan. Damit ist auch der Bedarf gestiegen, Blutproben und Zellen von Patienten oder Studienteilnehmern in die Labore und wieder zurück zu bringen. Das Problem: „Das ist kein Tagesgeschäft, keine Massenware und damit sehr teuer“, erklärt Franzcyk. In diesem Bereich tummeln sich hauptsächlich kleinere und mittlere Logistikdienstleister wie time:matters.

Der Spezial-Dienstleister für Sameday-, Kurier- und Notfall-Logistik wurde 2002 als Spin-off der Lufthansa Cargo AG gegründet. Seit 2014 gehört der Industriebereich „Life & Health“ fest ins Angebotssortiment und macht mittlerweile zehn Prozent des Gesamtumsatzes aus. Nicht ohne Grund haben sich der Gründer Franz-Joseph Miller und sein Team auf dieses Geschäft spezialisiert. „Wir gehen davon aus, dass dieser Zweig in den nächsten fünf Jahren überproportional wachsen wird“, sagt Miller.

Stammzellen, Blut- und Gewebeproben an jedem Tag in der Woche rund um die Uhr sicher und schnell zu transportieren, ist für die time:matters-Experten kein Problem. Sie gestalten ihre Logistikkette passgenau nach den Wünschen ihrer Kunden. Falls nötig, begleiten Kuriere die hochempfindlichen Güter von der ersten bis zur letzten Minute und achten beispielsweise darauf, dass die Transportboxen bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen nicht geröntgt werden. „Unsere Leute arbeiten mit den Kunden maßgeschneiderte Lösungen aus, die sie von den anderen, generalistisch aufgestellten Anbietern nicht bekommen“, sagt Geschäftsführer Miller.

„Es geht um Leben und Tod“

Das Engagement scheint sich auszuzahlen: „Bei Stammzelltransporten sind wir mittlerweile weltweit einer der führenden Dienstleister“, sagt Miller. Stammzelltransporte sind nötig, wenn Patienten eine Stammzelltransplantation brauchen, weil sie an Blutkrebs erkrankt sind. Dann machen sich Mediziner auf die Suche nach einem passenden Stammzellspender, dem sie Blutstammzellen entnehmen. Zeitgleich wird der Patient auf die Transplantation vorbereitet, sein Immunsystem durch Chemotherapie und Bestrahlung unterdrückt und der Tumor bestrahlt. Anschließend erhält er die Spenderzellen, die ein Kurier ins Krankenhaus bringt. Eine Prozedur, bei der exaktes Timing unerlässlich ist.

„Hier geht es um Leben und Tod“, sagt Miller. „Die Stammzellen müssen zur richtigen Zeit am richtigen Ort und in der richtigen Verfassung geliefert werden – da liegt die Toleranzgrenze bei Null.“ Deshalb liegt in der Transportbox neben dem Zellbeutel ein Temperaturlogger, der während des Transports durchgehend aufzeichnet, ob die Temperatur konstant vier Grad beträgt. Andere Hightech-Geräte können außerdem Luftfeuchtigkeit, Erschütterungen und Lichtveränderungen aufzeichnen.

Wie zuverlässig derartige Einzeltransporte funktionieren, weiß auch Prof. Dr. Ulrich Sack. Der Immunologe vom Universitätsklinikum Leipzig ist ein Mann der Praxis, empfindliche Proben in Labore zu schicken ist für ihn Tagesgeschäft. Doch er sieht ein Problem: „Individuallösungen sind sehr personal-, zeit- und materialaufwendig. Dadurch wird das alles sehr teuer“, sagt der Wissenschaftler, der als Forschungsdirektor am Translationszentrum für Regenerative Medizin Leipzig große Erfahrungen mit neuen Therapien sammeln konnte. Und damit die modernen Therapien zukünftig bezahlbar werden, müssten auch die Logistikkosten weiter sinken.

Während für normale Transportgüter die Logistikkosten zwischen 10-15 Prozent des Endproduktpreises liegen, sind die Kosten in der Medizinlogistik sehr viel höher, sagt Wirtschaftsinformatiker Franzcyk. Grob veranschlagt sind Kühltransporte doppelt so teuer wie herkömmliche Beförderungen.

Die Zollbestimmungen und Vorschriften für Gefahrgut sind streng

Deshalb braucht es nach Ansicht der Leipziger Wissenschaftler noch mehr Standardisierung und innovative Konzepte, an denen es im Moment noch mangelt. „Als man Briefe mit dem Reiter nach Rom geschickt hat, hätte man sich auch nicht vorstellen können, dass wir einmal Briefe als E-Mails schicken“, scherzt Sack. Deshalb wünscht er sich auch für zelluläre Produkte einfachere Lösungen. „Ich entnehme eine Probe und kann sie einfach im Regelbetrieb irgendwo mit hinschicken – eine Art spezialisierte Post.“ Auch die Gesetzgebung und der Datenschutz seien gefordert. Die Zollbestimmungen und Vorschriften für Gefahrgut sind streng.

„Das Ziel muss sein, dass die Abläufe so etabliert werden, dass solche Transporte in großer Zahl machbar und bezahlbar sind.“ Und nicht an den Bestimmungen einer Fluggesellschaft scheitern. 2010 ging das Stammzell-Transportdrama glücklicherweise gut aus: Weil Easyjet ihn mit den Stammzellen nicht an Bord lassen wollte, charterte der Mediziner Martin Birchall von der Universität Bristol einen Privatjet – für 16.600 Euro. Und ermöglichte durch seine spontane logistische Notfalllösung, dass die Patientin in Barcelona noch rechtzeitig operiert werden konnte.

Lesen Sie auch Teil 2 unserer Serie „Unsichtbare Logistik“ zum Thema Raumfahrtlosgistik sowie Teil 3 zum Thema Entsorgungslogistik.

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