Wie die Universitäten in Deutschland ihre Lehrpläne modernisieren.
Eines Tages erkennen Pakete selbständig, wie sie auf dem schnellsten Weg zum Kunden gelangen. Sie legen einen Teil der Strecke in einem autonomen Fahrzeug zurück und steigen für die restlichen Kilometer auf ein anderes System um. Die neuen Technologien dafür werden wahrscheinlich Made in Germany sein. Aber das neue Geschäftsmodell dahinter wird so gut wie sicher aus den USA stammen.
Deutschland – das Land der Ingenieure. Für die meisten drückt dieser Satz eine hohe Wertschätzung aus. Für Grit Walther äußert sich darin ein eklatanter Mangel. „Die Deutschen sind zwar gut darin, neue Technologien zu entwickeln. Aber sie überlassen es amerikanischen Firmen, daraus ökonomisch etwas zu machen“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin. Bei uns komme das Thema Geschäftsmodelle in der Praxis wie in der universitären Ausbildung noch immer „viel zu kurz“. Das will sie ändern.
Industrie 4.0 – Logistik der Zukunft
Grit Walther ist Professorin für Operations Management an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) und Vorsitzende des Prüfungsausschusses Master-Studiengangs Logistik und Supply Chain Management. Dieser wird im Haus der Technik in Essen durchgeführt und richtet sich an Ingenieure und Naturwissenschaftler, die schon mindestens einen Bachelor in der Tasche haben. In diesem Studiengang lernen Logistiker hier, wie man verschiedene Welten miteinander verbindet: Technologie, Daten und Business. „Der Studiengang ist ganzheitlich konzipiert und stützt sich gleichwertig auf ingenieur- und wirtschaftswissenschaftliche Komponenten“, heißt es auf der Homepage des Instituts.
Fast ein Jahr lang haben Walther und ihre Kollegen die Lehrpläne weiterentwickelt und die Module „moderner und innovativer gestaltet“. Digitalisierung, IT, Big Data, Industrie 4.0 – der Studiengang müsse „den aktuellen Entwicklungen in der Wirtschaft Rechnung tragen“, sagt die Wissenschaftlerin. Auch kleine und mittlere Unternehmen würden ihre Entscheidungen „immer weniger aus dem Bauch heraus“ treffen, sondern zunehmend auf der Basis von Datenanalysen und Modellen. Dafür brauche es „gut ausgebildete Leute, die nicht nur Konzepte entwickeln, sondern Simulations- und Optimierungstools mit Daten füttern können“. Ohne Mathe kommt man in Essen nicht weit: „Wer bei uns Logistik studieren möchte“, so Walther, „sollte schon eine gewisse Affinität zu mathematischen Problemstellungen mitbringen.“
Praxisprobleme der Unternehmen sollen gelöst werden
Algorithmen steuern die hochautomatisierten Fabriken der Zukunft und vernetzen Produktions- und Logistikketten. „Hier setzen wir mit einer gezielten Weiterbildung an“, berichtet Grit Walther. „Die Absolventen sollen in der Lage sein, Planungsmodelle an der Schnittstelle von Logistik und Produktion in komplexen Wertschöpfungsketten umzusetzen.“ In ihren Vorlesungen spricht sie zunächst über Planungsprobleme, Erwartungshorizonte und darüber, wer letztlich die Entscheidungen trifft, der Mensch oder der Computer, bevor sie zu den eigentlichen mathematischen Modellen kommt. „Meine Einstellung ist: Wir brauchen Menschen, die ein Verständnis dafür haben, was sie da überhaupt tun und was möglich ist – bevor sie es rechnerisch umsetzen.“ Dabei werden die jungen Manager die Modelle später wahrscheinlich gar nicht selbst entwickeln und programmieren. Allerdings sollten sie wissen, wie man sie im Unternehmen anwendet und welche Verbesserungen man dadurch erzielen kann.
Walther liegt viel daran, dass die Studierenden „mit der Masterarbeit etwas in ihrer Firma voranbringen“. Ein Beispiel: Ein Unternehmen ergatterte einen Riesenauftrag und bekam dann Zweifel, diesen überhaupt erfüllen zu können. Ein Absolvent hat daher in seiner Abschlussarbeit sämtliche Prozesse simuliert, diverse Störungen eingebaut und seine Ergebnisse in drei Szenarien vor dem Management präsentiert. „Eine tolle Arbeit“, lobt die Professorin. Im Studienmodul „Praxis der Logistik“ sammeln die Studenten solche Herausforderungen, vor denen ihre Unternehmen stehen. Und sie diskutieren darüber, welche sie im Einzelnen angehen wollen. „Es ist uns sehr wichtig, dass in der Masterarbeit konkrete Praxisprobleme gelöst werden.“
Logistik nimmt eine Querschnittsfunktion ein
Es gibt in Deutschland über 90 Logistik-Studiengänge an Universitäten, Fachhochschulen und Akademien. Das Portal www.logistik-studieren.de hat eine Datenbank mit allen Angeboten (Bachelor, Master, MBA und Weiterbildungen) eingerichtet, eine Gehaltstabelle erstellt und eine Jobbörse aufgebaut. Die Autoren empfehlen dringend, die Informationen der Universitäten im Internet zu nutzen, um keine böse Überraschung zu erleben. Immerhin 30 Prozent der Studierenden in Deutschland brechen ihr Logistik-Studium ab. Die Studienmöglichkeiten in der Logistik sind weit aufgefächert: Manche Studiengänge sind betriebswirtschaftlich orientiert, andere mathematisch oder technisch ausgerichtet wie die Logistik an der TU Dortmund. Der Bachelor-Studiengang ist an der Fakultät für Maschinenbau angesiedelt. Enger Partner ist das Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund. Es ist Europas größtes Forschungszentrum für Logistik.
„Die Logistik nimmt eine Querschnittsfunktion ein – von der Beschaffung über die Produktion bis zur Distribution und Entsorgung ist sie in allen Bereichen entlang der Supply-Chain vertreten“, so beschreibt der Diplom-Logistiker und wissenschaftliche Arbeiter Johannes Dregger sein Studienobjekt. „Wer bei uns in Dortmund seinen Abschluss macht, ist ein Alleskönner.“ Er wisse von allen Disziplinen etwas, von Informatik, Elektrotechnik, Maschinenbau, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Gegenüber den Spezialisten sei der Logistiker im Vorteil, weil er das große Ganze vor Augen habe und „die Einsatzgebiete der verschiedensten Technologien“ kenne. Gut die Hälfte aller Studenten schreiben ihre Abschlussarbeiten in Kooperation mit Unternehmen, deren operative Probleme oder Zukunftsfragen sie aufgreifen.
Wichtiger Lehrstoff ist auch in Dortmund die Industrie 4.0 und deren Strategie, „Maschinenbau mit IT zu kombinieren“, so Dregger. „Länder wie Japan sind in der IT sehr weit. Trotzdem sind wir ihnen voraus, weil wir den Maschinenbau dazu haben.“ Was junge Menschen an der Logistik so fasziniert? „Wegen der breiten Ausbildung ist es als Logistiker möglich, in fast jede Branche einzusteigen.“ Außerdem höre die Logistik ja nicht an den deutschen Außengrenzen auf. Das Einsatzgebiet für Logistiker ist weltweit. „Das reizt viele Studenten.“ Dafür nehmen sie auch die Qualen der Mathematik in Kauf.