Auch wenn es lärmgeplagte Anwohner nicht gerne hören: Deutschland kann es sich nicht leisten, seine Flughäfen über Nacht zu schließen.
LH-Flug 8362. An diesem nasskalten Novemberabend muss es schnell gehen. Flugkapitän Fokko Doyen bleiben nur noch wenige Minuten, um mit seinem vollbepackten Flieger in Frankfurts Nachthimmel zu starten. Um Punkt 23 Uhr gehen in Europas Frachtflughafen Nummer eins für sechs Stunden die Lichter aus. Eigentlich soll die Fracht über Russland und Südkorea nach Peking fliegen. Doch schon nach 20 Minuten ist für Flugkapitän Doyen an diesem Abend Schluss. Er landet in Köln/Bonn und fährt mit dem Auto wieder nach Hause – dreimal solange, wie er zuvor im Cockpit saß. Drei Stunden steht seine voll beladene Maschine noch auf dem Rollfeld, bis eine neue Crew mit ihr endlich in Richtung Zielflughafen abhebt.
„Zwangsweise“ hat die Lufthansa diesen Zirkus mitgemacht, wie Karl Ulrich Garnadt, ehemaliger Cargo-Chef und derzeitig Passage-Vorstand der Airline, erklärt. „In Frankfurt durften wir nachts nicht mehr starten und in Köln/Bonn mussten wir so lange warten, bis uns die Überflugrechte für Russland und China gewährt wurden.“ Besonders ökonomisch und ökologisch war das nicht. „Dieser Irrsinn hat unnötig Zeit und Treibstoff gekostet“, sagt Garnadt. „In Summe ein paar Millionen Euro.“
Mittlerweile sind die Überflugrechte längst neu verhandelt und die Lufthansa startet wieder von Frankfurt aus – allerdings nur tagsüber. Seit das Bundesverwaltungsgericht Leipzig im April 2012 das Nachtflugverbot für Frankfurt bestätigte, warnt das Unternehmen vor den negativen Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Anwohner indessen fühlen sich bestätigt. „Schlaf ist Bürgerrecht“, sagt Stefan Greiner, Professor für Arbeit- und Sozialrecht an der Universität Bonn. „Ob die Fracht nachts um drei oder erst morgens um sechs fliegen kann, fällt ökonomisch doch gar nicht ins Gewicht. Die Fracht löst sich ja nicht in Luft auf.“
Das zwar nicht, aber sie bleibt in einer Welt, die niemals schläft, stundenlang am Boden liegen und verkompliziert dadurch den globalen Warenhandel mit seinen komplex ineinander verzahnten Logistikketten. „Deutschland kann es sich einfach nicht leisten, seinen wichtigsten Flughafen, der jede zweite hiesige Luftfracht befördert, nachts von der Weltwirtschaft abzukoppeln“, sagt Dieter Schweer, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). „Die exportlastige deutsche Industrie ist auf Nachtflüge dringend angewiesen. Wertmäßig laufen schon rund 40 Prozent unserer Ausfuhren über Luftfracht.“
Auch wenn 80 Prozent des internationalen Frachtaufkommens noch immer über die Weltmeere transportiert werden, bevorzugen deutsche Unternehmen insbesondere bei hochwertigen, verderblichen und termingebundenen Gütern das Flugzeug als Transportmittel. So gehen beispielsweise dringend benötigte Laborgeräte nach Japan oder argentinische Polopferde via Luftfracht zum Saisonstart nach Europa.
Berechnet an dem Warenwert flogen 2014 schon 30 Prozent aller Exporte der Weltwirtschaft durch die Lüfte. Tendenz steigend: Wurden 2007 Waren im Wert von 162 Milliarden Euro aus und nach Deutschland verschickt, waren es 2012, mit einem Plus von 26 Prozent, schon 204 Milliarden Euro.
Sogenannte Integratoren, also Expressdienstleister wie UPS, die Waren von Tür zu Tür mit garantierter Auslieferung am Folgetag transportieren, haben an diesem Geschäft großen Anteil. Sie nutzen mit eigenem Fluggerät nachtflugoffene Airports wie Köln/Bonn als Frachtdrehkreuz. „Unsere Kunden können ihre Güter so quasi im Nachtsprung am Ende des Produktionstages versenden und sicher sein, dass sie am nächsten Morgen zum Beispiel in den USA ausgeliefert werden“, sagt Flughafen-Chef Michael Garvens.
Wenn jede Minute zählt, geht ohne Flugzeug nichts mehr. Und ohne Passagiermaschinen sowieso nichts. Denn der Großteil des Frachtaufkommens wird längst im Rahmen des normalen Linienverkehrs transportiert. Rund 56 Prozent der versandten Güter landen im Beiladeraum unterhalb des Passagierdecks. „Belly-Fracht“ nennt sich diese Art der Beförderung im Branchenjargon. Und das ist auch der Grund, weshalb die Lufthansa nach dem verhängten Nachtflugverbot in Frankfurt den Standort für ihre Frachtflüge jetzt nicht einfach ändern kann. „Frankfurt ist für unser Geschäftsmodell unverzichtbar“, sagt Garnadt. Rund die Hälfte der Cargo Fracht werde in den Passagiermaschinen des Mutterkonzerns Lufthansa befördert. „Das ist nicht reproduzierbar an einem anderen Standort – jedenfalls auf lang absehbare Zeit nicht.“
Die neuen Großraumflugzeuge, etwa die Boeing 777, verstärken den Trend. Denn sie können nicht nur mehr Fluggäste an Bord nehmen, sondern haben auch einen deutlich größeren Frachtraum. „Deshalb geraten die reinen Frachtfluganbieter auch immer stärker unter Druck“, sagt Stephan Schiller, Geschäftsführer der Hermes
Transport Logistics (HTL) in Hamburg. Kombinationscarrier wie die Lufthansa, die sowohl Fracht als auch Personen befördern, sind dagegen weniger krisenanfällig und können die Kapazitäten wichtiger Passagierdrehkreuze wie Frankfurt für sich ausnutzen.