Die Logistikbranche bleibt auch 2023 mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Schwankende Sendungsmengen, hohe Energiekosten, Inflation oder Preisdruck – Händler*innen im E-Commerce und Logistiker*innen müssen nach wie vor mit großer Flexibilität und Widerstandsfähigkeit ihr Business managen. E-Commerce-Experte Alexander Graf spricht im Interview über die großen Trends des Jahres, welche Anbieter durchstarten werden und inwieweit spezielle KI-Anwendungen die Logistikbranche optimieren könnten.
Alexander Graf, bevor wir über mögliche Trends in 2023 sprechen, lassen Sie uns einmal auf die Rahmenbedingungen schauen. Wir haben in Deutschland eine anhaltende Inflation und extrem gestiegene Preise für Strom, Wärme und weitere Lebenserhaltungskosten. Das Konsumverhalten war Ende 2022 dementsprechend zurückhaltend. Hält diese Stimmung auch in 2023 an?
Alexander Graf: Für einen gewissen Teil der Bevölkerung, wo das jährliche Haushaltsnettoeinkommen unter 80.000 Euro liegt, auf jeden Fall. Beim Rest wirkt es sich einfach nicht stark genug aus. Ob man 2.000 Euro mehr für Strom, Wurst und Butter ausgeben muss, fällt nicht ins Gewicht. Dazu gehören auch oft Kunden, die bei Online-Grocers wie Knuspr oder Picnic shoppen. Deren Dienstleistungen richten sich bewusst an Besserverdienende.
Wie reagiert denn die E-Commerce-Branche aktuell auf die zurückhaltende Konsumstimmung? Gnadenlose Rabatte oder künstliche Verknappung von Produkten, um die Nachfrage hochzuhalten?
Alexander Graf: Die E-Commerce-Branche muss mit höheren Preisen reagieren. Aktuell heißt es überall sparen, sparen, sparen. Anbieter wie ABOUT YOU oder Amazon gehen dazu über, für Kunden einen Mindestbestellwert einzuführen. Für Amazon-Fresh-Produkte in den USA sind es 150 Dollar. Das ist eine enorme Größenordnung. Außerdem werden Services, die bislang kostenlos waren, immer stärker zurückgefahren, das wird auch bis Ende des Jahres so bleiben. Aber es gibt auch Ausnahmen: Ich bin erstaunt, dass neuere Anbieter wie Shein oder Temu mit krassen Investitionen in den Markt gehen.
Zeitnahe vs. kostenlose Lieferung
Gratis-Lieferungen sind ein beliebter Service, der bei E-Commerce-Händlern oft angeboten wird. Die fallen also bald weg?
Alexander Graf: Zumindest bei Anbietern für sehr günstige Produkte. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es auch eine andere Taktung der Lieferung geben wird. Artikel werden nicht mehr täglich verschickt, sondern nur noch gebündelt und an bestimmten Tagen. Ich wohne in Gettorf (Schleswig-Holstein, Anm. d. Red.), mir würde es reichen, wenn einmal die Woche eine Lieferung käme. Die Logistikbranche müsste sich aber völlig umstellen, aktuell gibt es dafür nicht die entsprechenden Sammelplätze, abgesehen von kleineren Paketshops. In diese Richtung der konsolidierten Zustellung sollte es aber eigentlich gehen. Es muss eine Differenzierung geben zwischen zeitnaher Lieferung und einer kostenlosen Lieferung, die vielleicht nur einmal die Woche stattfindet. Aus meiner Sicht macht es keinen Sinn, die Letzte Meile zwanzig Mal anzufahren, wenn auch ein- bis zweimal reichen würde. Diesen Schritt würde ich eigentlich erwarten: im Check-out meine Lieferoptionen noch besser auswählen zu können.
Wie könnten die aussehen?
Alexander Graf: Man könnte die Lieferzeiten entzerren. Angenommen, ich bin damit einverstanden, dass meine Lieferung erst in drei Wochen kommt, dann wäre das eventuell mit verschiedenen Rabattstufen verknüpft. Heute können die Logistiker das nicht anbieten, dabei gibt es dafür eine Zahlungsbereitschaft als auch eine Ersparnis bei den Kunden.
Stationärer Handel ist komparativ besser aufgestellt als Online-Handel
Blicken wir zurück: Inwieweit helfen aktuell Erfahrungswerte, die man während der Hochphase der Corona-Pandemie gesammelt hat, um das eigene Geschäft gut zu managen?
Alexander Graf: Die meisten Online-Händler haben auf den ersten Blicken nicht profitiert, weil sie mit den falschen Planzahlen gearbeitet haben. Einige Anbieter haben zu viele Service-Kapazitäten aufgebaut, die jetzt auf die Bilanz drücken. Sie wollten selbst als Logistiker auftreten und haben sich mit zu viel Ware eingedeckt.
Vor dem Hintergrund der rasant steigenden Mengen während der Corona-Hochphase waren viele Anbieter froh um jede Arbeitskraft, die sie haben konnten. Der Boom hat aber bei einigen auch die kaufmännische Vorsicht ein Stück weit schwinden lassen, und das holt jetzt viele ein. Ich würde es eher umdrehen: Der Erfolg während dieser Zeit im Online-Handel hat dazu geführt, dass komparativ der stationäre Handel jetzt besser aufgestellt ist.
Fast-Fashion-Riese Shein punktet mit Businessmodell-Innovationen
Schauen wir nochmal auf die Situation im E-Commerce – mit Fokus auf den Lifestyle-Bereich. Der chinesische Anbieter Shein beispielsweise drängt in den Markt. Der Umsatz in Deutschland lag 2022 zwischen ein bis zwei Milliarden Euro. Was macht Shein so erfolgreich?
Alexander Graf: Shein punktet mit Businessmodell-Innovationen: Sie sind in der Lage, die Supply Chain besser zu steuern, weil etwa Kleidung in kleinen Auflagen sehr schnell vom Shop in die Welt verschickt wird. So entstehen keine Warenüberhänge und Trends können schneller erkannt werden. Das geht aber nur, wenn man direkt mit den Fabriken verbunden ist. Für die Fabriken funktioniert das gut, weil sie kleine Auflagen abgesetzt bekommen und bei Nachfrage sofort hochskalieren. Diese Form von Supply-Chain-Integration hatte bislang noch niemand im Fast-Fashion-Bereich. In den USA hat Amazon zudem neue Regularien für chinesische Händler festgelegt – davon profitiert ein Wettbewerber wie Shein.
Mit Blick auf die hohen Kundenanforderungen – insbesondere in Europa – kann Shein aber nicht gänzlich punkten: Zum Beispiel bei Nachhaltigkeitsstandards in der Produktion, auch wenn Shein versucht, da viel zu investieren. Zudem fehlt die Ausweisung der Mehrwertsteuer im Check-out-Prozess, und das Retouren-Handling dauert sechs bis sieben Wochen.
Gelingt Shein 2023 der ganz große Durchbruch?
Alexander Graf: Aktuell wird Shein von Temu überholt. Temu war im November 2022 bereits die beliebteste Shopping-App in den USA und ist noch breiter aufgestellt als Shein. Wir erkennen hier einen klaren Trend: Die Kunden wollen konsumieren – offensichtlich unabhängig von der Nachhaltigkeit des Produktes oder des Handelsweges. Das unterstreicht die These, dass Nachhaltigkeit als Kernmodell nicht funktionieren kann.
Voice-to-Text oder Text-to-Voice-Anwendungen werden an Fahrt aufnehmen
Lassen Sie uns noch über einen weiteren Trend sprechen: Aktuell ist vor allem die Kommunikationsbranche in hellem Aufruhr. Künstliche Intelligenz (KI) und Anwendungen wie ChatGPT sind Gegenstand vieler Gespräche, Expert*innen sprechen bereits von einer Zeitenwende. Welchen Faktor wird KI bereits in diesem Jahr für die E-Commerce-Branche haben?
Alexander Graf: Ich glaube, dass wir 2023 bereits die ersten Ergebnisse sehen werden. Noch nicht in der breiten Masse, aber es wird das ein oder andere Business geben, das besser performt, weil es die Schnittstellen zu ChatGPT besser implementiert. Da könnte es um Marken- oder Produktbeschreibungen gehen, was im E-Commerce sehr typisch ist. Ich finde sehr interessant, was Sam Altman (Gründer von ChatGPT, Anm. d. Red.) gesagt hat: Bisher sind wir davon ausgegangen, dass KI und Robotik die „einfachen“ Jobs zuerst gefährden. Lagerarbeiter, Kassierer, Lastwagenfahrer. Jetzt reden wir primär über die kreativen Jobs. Ich sehe heute schon viele Rollen – auch bei uns im Unternehmen – die man mit einer KI und viel geringerem Aufwand erledigen könnte. Man sollte sich nicht fragen, was ChatGPT in Summe kann, sondern was lässt sich als Unternehmen, als einzelne Person besser mit dem Tool erreichen, was andere nicht können? Und da wird es für Leute ganz knapp, die nicht kreativ genug sind, damit umzugehen.
Was bedeutet das für die Logistikbranche?
Alexander Graf: Auch KI braucht gute Daten. Die Logistikbranche hat das Problem, etwa aus Datenschutzgründen oder weil sie die Tools nicht hatten, gute Daten bereitzustellen. Wo ist mein Paket? Auf welcher Route ist das Zustellfahrzeug unterwegs? Wo endet der Stau? Theoretisch gibt es diese Daten, mit denen man eine bessere Kommunikation aufbauen könnte. Eine KI könnte in den Dialog mit den Empfängern gehen, etwa wenn das Paket an einem anderen Ort abgelegt werden soll. Voice-Tools entlang der Customer Journey gibt es bereits. Die Streckenplanung wird KI in diesem Jahr noch nicht massiv verbessern. Grundsätzlich geht es darum, dass die Qualität von Jobs steigen soll, ohne dass man kleine Texte jedes Mal irgendwo eintippen muss. Voice-to-Text- oder Text-to-Voice-Anwendungen werden an Fahrt aufnehmen, da sehe ich eine Menge Potenzial.
Wie lautet ihr persönlicher Wunsch für 2023? In welche Richtung sollte sich die Branche bewegen?
Alexander Graf: Ich wünsche mir für die Logistikbranche, dass wir ähnlich wie in den USA noch mehr Automatisierungen auf der Letzten Meile sehen. Liefer- und Abholservices könnten dann 24/7 passieren. Angenommen, ich habe eine Retoure: Dann kommt ein Auto in meine Straße gefahren, ich lege es hinten auf eine Fläche und dann fährt es wieder zurück ins Lager. So etwas fände ich cool. Wir brauchen diese Form von Automatisierungen, weil uns in den kommenden fünf Jahren viele Arbeitskräfte dafür fehlen werden. Innovation können wir aus Kundenseite nur in den Bereichen erwarten, die nicht von Menschen abhängig sind.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person:
Alexander Graf (Jahrgang 1980) ist E-Commerce-Unternehmer, Seriengründer sowie Handels- und Digital-Experte. Als CEO von Spryker, einem Softwareunternehmen für Digital Commerce, gestaltet er die Disruption von transaktionalem Business jeder Art. Zudem ist er Moderator des E-Commerce-Podcasts „Kassenzone“.