„Künstliche Intelligenz wird zum Gamechanger“

In diesen Tagen präsentiert die „transport logistic“ Technologien, welche die Branche auf Jahre prägen werden. Auch die Logistik-Initiative Hamburg (LIHH) stellt an ihrem Stand innovative Lösungen vor. Ulfia Clemen, LIHH-Projektmanagerin Wissenschaft & Innovation, spricht im Interview über KI-optimierte Lieferketten, das Potential von Quantencomputing und wie sich Logistik-Unternehmen für die Zukunft aufstellen sollten.

(Foto: metamorworks / Shutterstock)

Frau Clemen, die Logistik steht vor gewaltigen Umbrüchen. Die wichtigsten Trends werden auf der Münchner „transport logistic“ diskutiert, der weltweit größten Messe für Güterverkehr. Welche digitalen Technologien sind aus Ihrer Sicht geeignet, die Branche grundlegend zu verändern?

Ulfia Clemen: Wie weitreichend die Folgen einer technologischen Innovation sind, hängt davon ab, welche Probleme sie löst. In der Logistik zählen aktuell zu den größten Herausforderungen: Emissionen reduzieren, die Effizienz von Lieferwegen verbessern, wachsende Regulatorik und die Verringerung von zeitintensiver Routinearbeit. Auf vielen dieser Felder wird Künstliche Intelligenz (KI) zum Gamechanger werden – oder ist es bereits. Denn ganz gleich, welche Aspekte wir betrachten – ob autonomes Fahren, Drohnen oder Cyber-Sicherheit –, sie alle basieren auf Daten. Und die KI hilft uns, aus den Datenmengen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ergänzt wird sie durch die Blockchain-Technologie, also dezentrale Datenbanken, in denen Informationen gesammelt werden. Ähnlich wie bereits heute im Energiesektor, wird Blockchain auch in der Logistik zur Schlüsselanwendung.

Weniger Routinearbeit wünschen sich sicher viele Beschäftigte. Wie kann KI dabei helfen?

Ulfia Clemen: Einer der zentralen KI-Trends ist die „kooperative KI“. Dabei helfen Maschinen den Menschen, ihre Arbeit schneller und effizienter zu erledigen. Ein Beispiel ist „Voice to Report“, das viele Unternehmen nutzen: Anstatt Berichte etwa über Schäden oder besondere Vorkommnisse während der Tour mühsam abzutippen, sprechen Fahrer*innen diese einfach in der jeweiligen Sprache ein – und die KI wandelt die Aufnahme in einen fertigen Bericht um.

Ulfia Clemen (Foto: Paul Schimweg)

KI hebt Datenanalyse auf eine neue Stufe

Am spannendsten aus Sicht der Unternehmen ist sicher die Optimierung von Lieferwegen. Welche Rolle spielt die KI hier?

Ulfia Clemen: Allgemein gesprochen geht der Trend weg von großen Lagerbeständen und hin zu möglichst punktgenauer Lieferung. Dafür braucht es eine extrem gute Planung von Routen und Liefermengen, sowohl auf der Langstrecke wie auch auf der letzten Meile. Durch die Auswertung historischer Daten verbessert KI den Forecast und analysiert im Anschluss die beste Route. Dabei bindet sie sämtliche relevanten Daten ein: Wetter, angepeiltes Lieferfenster, Belastbarkeit von Brücken und vieles mehr. Mit der wichtigste Punkt ist der Batteriezustand bei E-Fahrzeugen: Sensoren tasten laufend die Batterie ab und synchronisieren die Ergebnisse mit den Fahr- und Ruhezeiten. Auf dieser Basis berechnet die KI die optimalen Ladezeiten: Muss das Fahrzeug zum Beispiel an einer Schnellladestation geladen werden oder reicht es auch, mit weniger Ladegeschwindigkeit aufzuladen? Schon heute setzen viele Unternehmen auf die neue Technologie – einige berichten von Kostensenkungen im zweistelligen Prozentbereich durch KI-basierte Routenplanung. Auch E-Commerce-Firmen, die KI nutzen, erzielen damit schnellere Lieferzeiten und geringere Versandkosten.

Das heißt: Der Gamechanger-Charakter von KI liegt darin, dass sie Daten, die von Wetterdiensten, Navigationssystemen oder Sensoren an Maschinen schon lange erfasst werden, erst so richtig nutzbar macht?

Ulfia Clemen: Richtig. Ein gutes Beispiel ist Predictive Maintenance, also die vorausschauende Wartung von Maschinen und Fahrzeugen. Seit mehr als zwanzig Jahren sind hier Daten verfügbar – etwa von Reifen, Motoren oder auch Batterien. Diese Informationen lassen sich mit KI nun deutlich besser analysieren. Und: Die Menschen, die die Reparaturen durchführen, können mit KI-gestützten Virtual Reality-Modellen geschult werden. Spannend wird es also immer da, wo digitale Daten in die physische Welt übertragen werden und dort einen positiven Effekt bringen. Etwa auch beim „Digitalen Zwilling“ – darunter versteht man Modelle, die die Lieferkette virtuell nachbilden und in denen man verschiedene Varianten durchspielen kann. Zum Beispiel bei der Lagerhaltung: Welche Waren sollen vorne stehen und welche besser hinten? Das spart die Zeit und den Aufwand, die nötig wären, um Szenarien in der wirklichen Welt zu testen.

Travelling Salesman: Neue Lösungen für ein bekanntes Problem

Als nächster großer Technologiesprung gilt Quanten-Computing. Was ist darunter zu verstehen?

Ulfia Clemen: Einfach erklärt: Quantencomputer können verschiedene unterschiedliche Zustände gleichzeitig erfassen. Stellen Sie sich ein Hochhaus vor, wo in einigen Fenstern Licht brennt und in anderen nicht. Ein Quantencomputer ist in der Lage, alle denkbaren Kombinationen gleichzeitig abzubilden.

Spannend. Aber wie hilft das in der Logistik?

Ulfia Clemen: Eine der Kern-Herausforderungen der Logistik ist das „Travelling Salesman-Problem“: Mehrere Orte sollen nacheinander in möglichst kurzer Zeit angesteuert werden. Wie wir gesehen haben, hilft schon die KI enorm, die beste Route zu finden. Dabei schließt sie nach und nach Möglichkeiten aus – etwa Landstraßen, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass die Autobahn sinnvoller ist – bis am Ende eine übrig bleibt. Ein Quantencomputer aber macht alle Strecken, die ein*e Fahrer*in nehmen könnte, gleichzeitig sichtbar – und kann durch Interferenz die optimale Kombination finden. Diese Fähigkeit wird die Datenverarbeitung allgemein revolutionieren – auch in der Logistik, etwa bei der Lagerhaltung oder wenn es darum geht, flexibel auf Störungen wie Staus oder Streiks zu reagieren.

Gibt es über Lagerhaltung und Routenoptimierung hinaus weitere Einsatzbereiche in der Logistik?

Ulfia Clemen: Ja, gemeinsam mit dem Institut der Quantenphysik (IQP) der Universität Hamburg entwickelt derzeit zum Beispiel die Lufthansa Quantenalgorithmen, mit denen die Abfertigung am Flughafen optimiert und das „Gate Assignment Problem“ gelöst werden soll. Darüber hinaus erforscht die Fluglinie in Kooperation mit Startups und Tech-Konzernen Möglichkeiten, strategische Flugplanung mit Quantentechnologie zu verbessern. Solche Projekte sind vielversprechend – doch bis zu einem flächendeckenden Einsatz in der Logistik wird es noch einige Jahre dauern.

Netzwerk und Kooperation entscheiden über technologischen Erfolg

Vieles ist also noch Zukunftsmusik. Wie können sich Logistik-Unternehmen denn heute schon für diese Zukunft bestmöglich aufstellen?

Ulfia Clemen: Auch wenn bei vielen Technologien erst in Umrissen erkennbar ist, wie sie die Logistik verändern werden, steht doch eines fest: Daten werden noch wichtiger. Firmen sollten sich deshalb intensiv mit diesem Thema beschäftigen: Wie gut sind unsere Daten? Welche Lücken gibt es? Wie sind unsere Daten organisiert und welche Schnittstellen für mögliche Anwendungen gibt es? Zweitens sollten sich Unternehmen überlegen, für welche Herausforderungen sie eigentlich Lösungen suchen. Und dabei drittens von den Mitarbeitenden her denken, denn letzten Endes soll die Technik ja den Menschen zugutekommen: Was würde den Fahrer*innen helfen? Wie können wir Prozesse für unsere Belegschaft besser und schneller machen? All diese Aspekte sollten Unternehmen geklärt haben, bevor sie hektisch auf einen Trend aufspringen.

Diese Ratschläge legen den Fokus auf die Organisation. Aber wie schaffen es Unternehmen, technologisch nicht den Anschluss zu verlieren?

Ulfia Clemen: Es wird stark auf Netzwerke und Kooperation ankommen, denn keine Firma kann die technologischen Umwälzungen allein stemmen. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit Verbänden, Startups und anderen Unternehmen essenziell. Nach dem Motto: Ihr kümmert Euch um Lagerraum-Management, wir konzentrieren uns auf Routenoptimierung. Wenn es konkret wird, sollten Unternehmen mit überschaubaren Pilotprojekten starten, in denen Dinge ausprobiert werden. Sinnvoll ist hier oft eine eigene kleine Einheit, die Innovation steuert und sich intern wie extern intensiv austauscht. Gemeinschaftlich arbeiten und sich gegenseitig unterstützen – das wird künftig entscheidend sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

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