Brexit: Worum die verbleibenden EU-Staaten jetzt ringen
Nach dem Brexit ringen die EU-Staaten darum, wie die Gemeinschaft in Zukunft aussehen sollte – und wie man am besten die Briten integriert
Das Wort „Warnungen“ hat gute Chancen, zum „Wort des Jahres“ 2016 gewählt zu werden. Es ist in den vergangenen Monaten im öffentlichen Diskurs so oft gebraucht worden wie kaum ein anderes. Am häufigsten wurde es von Politikern, Ökonomen und Kommentatoren zu dem Zweck verwendet, sich deutlich gegen den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs auszusprechen.
Bis zum Tag des Referendums am 23. Juni 2016 dürfte den meisten aber nicht klar gewesen sein, dass dem Wort eine paradoxe Ironie innewohnt: Denn je schärfer sie vor den negativen ökonomischen und politischen Folgen warnten, die der Brexit für Großbritannien haben würde, desto mehr baute das „Leave“-Lager seinen Vorsprung aus. Das Ergebnis ist bekannt: Trotz aller Warnungen stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Brexit.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach mit einer gewissen Ratlosigkeit von einer „Selbstbeschädigung“ Großbritanniens. Der neue Präsident des Münchner Ifo-Instituts, der Volkswirtschaftler Clemens Fuest, bezeichnete die Entscheidung als „üblen Schildbürgerstreich“ und „Niederlage der Vernunft“. Im Vorfeld der Wahl hatte unter den Wirtschaftsforschern seltene Einmütigkeit darüber geherrscht, dass der Brexit allen Seiten nur Nachteile bringt und Europa zu destabilisieren droht.
In einer Ifo-Umfrage unter 700 Volkswirten aus 113 Ländern sprachen sich fast 90 Prozent der Befragten für den Verbleib aus. Infolgedessen „warnte“ das Institut: „Im schlimmsten Fall würde der Freihandel gestoppt, die Binnenmarktregeln würden verfallen und Zollschranken wieder errichtet.“ Das mache den Handel richtig teuer.
Brexit kostet Großbritannien 300 Milliarden Euro
Im ersten Schock stürzten an diesem neuerlichen schwarzen Freitag weltweit die Kurse ab. Das Pfund fiel auf den niedrigsten Stand seit 31 Jahren. Die Rating-Agentur Moody’s senkte den Ausblick für die Kreditwürdigkeit Großbritanniens auf „negativ“ herab. Der Deutschen Aktienindex (Dax) verlor 6,8 Prozent – zu einem solch massiven Verlust war es zuletzt in der Finanzkrise 2008 gekommen.
Noch gefährlicher könnten die nachfolgenden Schockwellen werden. Einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge kostet der Brexit Großbritannien im ungünstigsten Szenario mehr als 300 Milliarden Euro. Je nach Ausmaß der handelspolitischen Isolation fällt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner im Jahr 2030 zwischen 0,6 Prozent und 3,0 Prozent geringer aus als bei einem Verbleib in der EU.
Rechnet man ein, dass der Finanzplatz London – gegenüber Frankfurt – an Attraktivität verliert und die Innovationskraft sinkt, schrumpft das BIP sogar um „bis zu 14 Prozent“. Falls sich die Insel handelspolitisch komplett abschottet, erwarten die Forscher auch für Deutschlands Wirtschaft Verluste von 55 Milliarden Euro.
Neben den ökonomischen Verlusten muss sich Berlin auf zusätzliche Mehrausgaben für den EU-Haushalt einstellen: Durch den Ausfall der britischen Beiträge muss Deutschland als größter Nettozahler jährlich zusätzlich 2,5 Milliarden Euro brutto beisteuern, teilt das Info-Institut mit.
Wie hart es am Ende kommt? Noch ist ungewiss, welche Wirtschaftsbeziehungen UK und EU miteinander pflegen werden. Sobald Großbritannien die EU-Staaten offiziell darüber informiert, nach Artikel 50 der EU-Verträge aus der Union auszutreten, beginnt ein Verhandlungsmarathon über Regeln, Rechte und Privilegien. Sollte binnen zwei Jahren kein Abkommen zustande kommen, scheidet Großbritannien ungeregelt aus. Juncker hat bereits angekündigt, dass die Briten kein großes Entgegenkommen erwarten dürften: „Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen.“
Unternehmen drohen mit Abbau und Abwanderung
Doch die britische Wirtschaft will den Zugang zum Binnenmarkt unbedingt erhalten. Über die Hälfte der britischen Warenexporte und ein Drittel der Dienstleistungen wie beispielsweise die Finanzgeschäfte gehen in die EU, Exportschlager: Weingummi, Orangenmarmelade, schottischer Whiskey und Autos. Auch Deutschland hat großes Interesse daran. Großbritannien ist unser drittgrößter Exportmarkt, im vergangenen Jahr verkauften deutsche Unternehmen Waren im Wert von 90 Milliarden Euro auf die Insel.
Besonders die deutschen Autobauer sind stark vom Export ins Königreich abhängig. Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto wird nach Großbritannien exportiert. BMW ist gleich mehrfach vom Brexit betroffen, weil die Münchner in England den Mini fertigen, ein Motorenwerk betreiben und 24000 Mitarbeiter beschäftigen. Entsprechend brach die BMW-Aktie um sieben Prozent ein. Ebenso eng sind Firmen der deutschen Maschinenbauindustrie mit Großbritannien verflochten. Sie äußerten sich besorgt über die Phase der Ungewissheit.
Müssen Unternehmen Tochtergesellschaften auf der Insel gründen? Werden Arbeitnehmerrechte geschwächt? Wird das Reisen erschwert? Ist länderübergreifende Bildung und Forschung ohne EU noch möglich? „Nun droht jahrelanges Gerangel über komplizierte Fragen wie einen neuen Freihandelsvertrag oder die Arbeitnehmerfreizügigkeit“, kommentierte „Spiegel online“. Das dürfte viele Unternehmer verunsichern und dazu führen, dass Investitionen und Einkäufe verschoben werden. Nach einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung von 2015 drohen fast ein Drittel der britischen und deutschen Firmen in UK sogar damit, ihre Kapazitäten auf der Insel abzubauen oder an einen anderen Standort zu verlagern.
Das Schreckensszenario: Hohe Zölle für Einfuhren
Erstaunlicherweise haben die „Brexiteer“ offen gelassen, wie sie sich die britisch-europäische Zukunft alternativ vorstellen. Allein das Norwegische Modell lehnen sie ab. Demnach dürfte das Königreich als 32. Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zwar Waren und Dienstleistungen über Grenzen hinweg anbieten und Geld von Land zu Land transferieren. Dafür müsste es aber hohe Mitgliedsbeiträge zahlen und alle Regeln, auch die zur Einwanderung, übernehmen, ohne in den EU-Organen selber ein Stimmrecht zu besitzen.
Lockerer ist die Bindung zur EU im Schweizer Modell. Die Eidgenossen haben als Mitglied der Europäischen Freihandelszone EFTA mit Brüssel mehr als 120 Abkommen getroffen. Sie ermöglichen ihnen den Zugang zum EU-Binnenmarkt – sofern es nicht um Dienstleistungen geht. Handelshemmnisse gibt es reichlich. Dass Brüssel ein weiteres Mal ein derart komplexes Vertragswerk über viele Jahre verhandeln will, bezweifeln EU-Diplomaten.
Wollen die Briten auf eine privilegierte Partnerschaft mit der EU hinaus? Durch ein Handelsabkommen, das Dienstleistungen einschließt? Nach jetzigem Stand haben die Europäer wenig Interesse daran, eine solche Verbindung auszuhandeln – zumal da alle 27 verbliebenen EU-Mitglieder ein Veto einlegen können.
Das Schreckensszenario für beide Seiten wäre die WTO-Option. Sollten die Europäer keinen Kompromiss anstreben, wären die Briten nach dem EU-Austritt einfaches Mitglied in der Welthandelsorganisation. Ohne Zugang zum Binnenmarkt müssen sie hohe Zölle für Einfuhren zahlen. Gegenüber Brüssel hat sich London in die schlechtere Verhandlungsposition manövriert. „Für die Briten ist der EU-Markt sehr viel wichtiger als Großbritannien für die allermeisten EU-Mitgliedstaaten“, heißt es beim Ifo-Institut.
„Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen“, fordert Fuest. Deshalb müsse Großbritannien „so weit wie möglich“ in den Binnenmarkt integriert bleiben. „Es ist wichtig, die Verhandlungen darüber möglichst schnell zum Abschluss zu bringen, damit die Phase der Unsicherheit über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen möglichst kurz bleibt.“
Politisch hinterlässt Premierminister David Cameron, der Initiator des Referendums, einen Scherbenhaufen. Das Vereinigte Königreich ist tief gespalten, England und Wales stimmten für den Brexit, Schottland und Nordirland dagegen. Noch vor der Loslösung von der EU droht der Bruch mit den Schotten, die ihre Unabhängigkeit anstreben, um in der EU zu bleiben. Großbritannien wird klein. In den Ländern tun sich tiefe Gräben auf zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Stadt und Land. Auch das ist Camerons Erbe: Rechtspopulisten in ganz Europa fordern nun einen „Nexit“ (Niederlande), „Frexit“ (Frankreich) oder „Czexit“ (Tschechien).
Bis zum nächsten Referendum sollten die EU-Befürworter ihre Strategie ändern. Weniger warnen, mehr werben.