E-Commerce im Umbruch: Wie Krisen das Kaufverhalten nachhaltig verändern

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Herr Groß-Albenhausen, wie würden Sie die Entwicklung des E-Commerce in den vergangenen fünf Jahren beschreiben?
Martin Groß-Albenhausen: Es fühlte sich an wie eine Achterbahnfahrt: erst steil nach oben, danach Schussfahrt bergab. Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 begann, gab es zunächst eine Schockstarre – doch kurz darauf zog der Online-Handel rasant an, mit extremen Zuwächsen vor allem im vierten Quartal. 2021 war dann ein Rekordjahr: Zum ersten Mal überhaupt überschritt der E-Commerce-Umsatz die Marke von 100 Milliarden Euro.
Dann kam 2022 der Krieg in der Ukraine. Welche Auswirkungen hatte dies auf den Online-Handel?
Martin Groß-Albenhausen: Mit dem Krieg brach der Umsatz ein, die Nachfrage sackte mehrere Quartale in Folge ab. Erst ab Ende 2023 begann sich das Geschäft wieder zu stabilisieren, und im Jahr 2024 drehten wir langsam wieder ins Plus – allerdings kommend von einem recht niedrigen Niveau. Im ersten Quartal 2025 wuchs der Umsatz um gut drei Prozent. Noch gibt es einige Unsicherheiten, aber ich gehe davon aus, dass wir bis 2029 wieder ein moderates Wachstum von rund sieben Prozent jährlich erreichen. Vor 2020 lagen wir im Schnitt allerdings bei elf Prozent.

Haben hohe Energiepreise sowie Inflation dafür gesorgt, dass die Menschen weniger online shoppen?
Martin Groß-Albenhausen: Kriege oder (geo-)politische Unsicherheiten sind immer Gift für die Kauflaune. In solchen Situationen halten die Menschen ihr Geld zurück – nicht, weil Produkte teurer werden, sondern weil sie verängstigt sind. Diese psychologische Reaktion kennen wir aus früheren Krisen. Die stark steigende Inflation hat den Effekt noch verstärkt. Selbst Rabatte haben in dieser Zeit kaum gewirkt, weil Verunsicherung und Kaufkraftverlust zu groß waren.
„Die Menschen vergleichen mehr und suchen gezielt nach günstigen Angeboten“
Wie genau hat sich das Kaufverhalten von Verbraucher*innen verändert?
Martin Groß-Albenhausen: Kundinnen und Kunden sind preissensibler geworden. Besonders empfindlich reagiert die Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen, während bei den Jüngeren Konsumentscheidungen noch stärker von Lifestyle-Aspekten geprägt sind.
Aber alle vergleichen mehr, suchen gezielt nach günstigen Angeboten und sind offener für internationale Anbieter. Wir sehen deshalb ungefähr seit 2023 einen massiven Anstieg des Anteils der asiatischen Plattformen an den Transaktionen. Shein etwa konnte 2023 den Umsatz in Europa um fast 70 Prozent steigern. Ausländische Anbieter machen inzwischen zehn Prozent des Online-Handels aus, in Deutschland haben im ersten Halbjahr 2024 fast 24 Millionen Menschen Shein genutzt. Die Hinwendung zu Temu, Shein und Co. sehen wir dabei längst nicht mehr nur im Modesegment, sondern etwa auch bei Hardware im klassischen Amazon/Ebay/OTTO-Bereich. Andere Kriterien traten dahinter zurück. In unseren Umfragen sagt rund die Hälfte, dass sie stärker auf günstige Preise achten als auf Nachhaltigkeit.
Werden diese Veränderungen länger nachwirken?
Martin Groß-Albenhausen: Ja, alles ist reflektierter und kleinteiliger geworden, es gibt weniger Impulskäufe. Auch strukturell hat sich etwas verschoben: Die über 60-Jährigen haben sich während Corona stärker – oft zum ersten Mal – dem Online-Handel zugewandt. Und sie sind geblieben – heute stellen sie die größte Käufergruppe im E-Commerce. Bei den Warengruppen werden inzwischen Fast Moving Consumer Goods wie Lebensmittel häufiger online bestellt, was vor der Pandemie wegen der hohen Supermarktdichte eher selten war. Nach Zahlen des HDE-Online-Monitors 2025 konnte dieser Bereich im Vergleich zu 2019 um mehr als 135 Prozent zulegen. Auch Gesundheit und Wellness sowie Elektrogüter sind gewachsen. Mode hält zwar mit einem knappen Viertel noch den größten Anteil im E-Commerce, wächst aber nicht mehr so stark.
Welche Folgen hat das veränderte Bestellverhalten für die Logistik, insbesondere die KEP-Branche?
Martin Groß-Albenhausen: Wir beobachten hier einige zum Teil gegenläufige Trends. Erstmal zu den Dimensionen: 2024 lag der durchschnittliche Wert pro Bestellung bei knapp 52 Euro, im Schnitt bestellte jede Kundin bzw. jeder Kunde 35 Mal im Jahr. Weil die Menschen aber überlegter einkaufen, gibt es tendenziell weniger Bestellungen, die dafür einen höheren Warenkorbwert haben. Das spricht zunächst für weniger Pakete. Aber: Gleichzeitig hat die Retourenbereitschaft seit Pandemiebeginn deutlich zugenommen. Viele treffen die endgültige Kaufentscheidung erst beim Auspacken. Das hat auch mit den knapperen Budgets zu tun: Man bestellt, prüft und entscheidet dann. Am Anfang von Corona waren viele mit Retouren nicht vertraut – inzwischen ist das gelernt und wird stark genutzt. Diese Entwicklung wiederum lässt das Paketvolumen steigen.
„Die Logistik wird anspruchsvoller“
Das klingt, als wäre es schwierig, ein einheitliches Bild zu zeichnen.
Martin Groß-Albenhausen: Es wird noch komplizierter – es gibt mehr Schwankungen bei Bestellungen und damit auch Paketmengen. Zum einen nimmt die Saisonalität ab, Beispiel Bademode: Die wurde früher im Frühjahr oder Sommer gekauft. Heute fliegen die Menschen im Dezember nach Dubai und brauchen einen neuen Bikini. Gleichzeitig werden Anschaffungen aufgeschoben: Wer ein neues Tablet braucht, bestellt vielleicht nicht sofort, sondern wartet bis zum Cyber Monday. Zu diesen Bestellspitzen müssen dann extrem hohe Volumen geliefert werden. Zusammen mit dem zunehmenden Wunsch nach Flexibilität bei der Zustellung – etwa Wunschort, bestimmte Zeitfenster – macht das die Logistik deutlich anspruchsvoller. Strategische und kluge Planung wird immer wichtiger.
Welche strukturellen Veränderungen sehen Sie bei den Händlern selbst?
Martin Groß-Albenhausen: Die Konzentration nimmt zu. Viele kleinere Shops oder Fachhändler haben aufgegeben oder konzentrieren sich auf den Verkauf über Marktplätze. Große Plattformen wie Amazon oder OTTO, aber auch die neuen Player aus Asien, gewinnen weiter Marktanteile. Innerhalb dieses Big Picture zeigt sich aber eine wachsende Fragmentierung, weil immer mehr kleinere Händler und Mikro-Influencer den Markt betreten, etwa über Plattformen wie Etsy. Sie sind besonders bei jüngeren Menschen beliebt – und haben oft andere Logistikkonzepte: So können Verkäufer beispielsweise Versandetiketten von Paketdienstleistern direkt über Etsy kaufen. Für KEP-Unternehmen bedeutet das: mehr Vielfalt, aber auch wieder mehr Komplexität bei Abholung und Zustellung.
Blicken wir auf die Technik: Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz (KI) heute im E-Commerce?
Martin Groß-Albenhausen: Sie ist zentral. KI hilft bei Produktempfehlungen, Bestellplanung und im Kundenservice. Inzwischen gibt es Bots, die beim First-Level-Support im Call Center viele Fragen wie „Wo befindet sich mein Paket?“ direkt per Voice-Anwendung beantworten. KI könnte auch helfen, das Nachhaltigkeitsthema wieder in den Vordergrund zu rücken. Etwa, indem sie klimafreundliche Angebote sichtbarer macht oder im Checkout proaktiv eine CO2-Kompensation anbietet.
Aktuell beschäftigt uns ein anderer Trend stark: Kundinnen und Kunden nutzen KI zur Kaufberatung. Sie fragen zum Beispiel: „Nächste Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch, Was soll ich anziehen?“
Das verändert natürlich die komplette Customer Journey. Nach einer aktuellen Studie von Adobe Analytics ist der Zugriff auf Einzelhandels-Websites über KI-gestützte Suchsysteme zwischen Juli 2024 und Februar 2025 um 1.200 Prozent gestiegen. Die Händler müssen eine Antwort darauf finden, dass die neuen Sneakers nicht mehr klassisch über Google, sondern im Dialog mit der KI gesucht werden. Wer dann nicht mit gut strukturierten Produktdaten präsent ist, wird nicht gefunden. An dieser „Generative Engine Optimization“ – also der Frage, wie man von den KI-Crawlern gefunden wird, arbeitet gerade die gesamte Branche.
Nach der Achterbahnfahrt und mitten in technologischen Umbrüchen: Wie sieht Ihre Prognose für den E-Commerce aus? Wird das zarte Wachstum anhalten?
Martin Groß-Albenhausen: Erstmal will ich betonen: Der Online-Handel ist zurück! Die eingangs erwähnten sieben Prozent jährliche Steigerung sind jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen. Einige Kategorien wie Lebensmittel oder Drogerie-Produkte werden auf jeden Fall noch stärker zunehmen. Viele Jüngere kaufen bestimmte Produkte gar nicht stationär ein, und gerade ältere Konsument*innen gehen immer mehr in den Markt und machen neue Segmente groß, wie etwa Haustierbedarf. Schätzungen sagen, dass in allen Branchen die Hälfte der Käufe online erledigt werden kann – da haben wir also noch Entwicklungspotential.
Gleichzeitig sehe ich natürlich angesichts der Kriege und Krisen die Gefahr erneuter Einbrüche. Wie sehr diese den E-Commerce ausbremsen, kommt aber auf den Kontext an. Höhere Benzinpreise beispielsweise könnten die Anfahrt zum stationären Handel unattraktiver machen – davon profitiert Online. Wichtig ist: E-Commerce ist in vielen Fällen die günstigere Alternative, gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten.
Vielen Dank für das Gespräch!