Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Rettung ist Pflicht
Frachter und Containerschiffe retten über Monate tausende Flüchtlinge aus dem Meer. Die Reeder fühlen sich im Stich gelassen und schlagen Alarm. Jetzt hilft die Bundesmarine und entlastet die völlig überforderten Seeleute.
Im Februar 2015 ertrinken vor der italienischen Insel Lampedusa mehr als 330 Flüchtlinge. Während der Überfahrt von Libyen in vier Schlauchbooten bei eisigen Temperaturen und aufgepeitschter See sterben viele an Unterkühlung.
Im April 2015 kentert vor der libyschen Küste ein voll besetztes Flüchtlingsboot. 400 Menschen werden vermisst. Es ist die schlimmste Flüchtlingskatastrophe seit Oktober 2013.
Nur wenige Tage später sterben im Mittelmeer 700 Menschen nach einem Schiffsunglück. Ein Überlebender spricht von 950 Menschen an Bord des untergegangenen Fischkutters.
Dies sind nur die drei größten Flüchtlingsdramen, die sich in diesem Jahr im Mittelmeer zugetragen haben. Gemessen an der Zahl der Todesopfer. Trotz der großen Gefahr versuchen weiter Tag für Tag Tausende über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Jeder dritte Flüchtling stammt aus dem zerstörten Syrien. Viele können nicht schwimmen.
Schiffe aus aller Welt im humanitären Dauereinsatz
Das Genfer Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von einer „Flüchtlingskrise von historischem Ausmaß“. 1867 Menschen kommen im ersten Halbjahr 2015 bei der Überfahrt ums Leben, davon allein 1308 im Katastrophenmonat April. Offiziell. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand. Immerhin: Die Zahl derer, die lebend in Europa ankommen, ist im Vergleich zum Vorjahr um 83 Prozent gestiegen, teilt die UNHCR mit.
Dies ist zunächst ein Verdienst der Handelsschifffahrt. Als im Oktober 2014 das Programm der italienischen Marine „Mare Nostrum“ zur Rettung von Schiffbrüchigen eingestellt wird, weil sich die EU nicht an der Finanzierung beteiligen will, sind Frachter und Containerschiffe aus aller Welt im humanitären Dauereinsatz. Sie nehmen 2014 nach Angaben des Verbandes deutscher Reeder (VDR) im Mittelmeer insgesamt 40.000 Flüchtlinge an Bord.
Auf „Mare Nostrum“ folgt im November 2014 das unter dem Dach der EU-Grenzschutzagentur Frontex angesiedelte Programm „Triton“. Deren Schiffe überwachen die Küste Italiens, sie gehen gegen Schlepper vor, suchen aber nicht gezielt nach Flüchtlingen. Die Reeder fühlen sich deshalb im Stich gelassen. „In dem 200 bis 300 Kilometer breiten Streifen zwischen den Grenzen des ‚Triton’-Einsatzgebietes und der libyschen Küste sind die bisher schlimmsten Katastrophen mit tausenden ertrunkenen Flüchtlingen passiert“, sagt Ralf Nagel, Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des VDR: „Dort sind unsere Seeleute weiterhin vielfach erster Retter für die Flüchtlinge in Seenot und werden dabei oft traumatischen Erlebnissen ausgesetzt.“
Angeforderte Schiffe müssen den Kurs ändern
In den ersten Monaten 2015 eskaliert die Lage. Allein Schiffe aus Hamburg retten im Mittelmeer 2500 Menschen. Fast täglich gehen in dieser Zeit Hilferufe von der Leitstelle MRCC in Rom ein (Maritime Rescue Coordination Center). Aufgeforderte Kapitäne müssen den Kurs ändern und mit höchstmöglicher Geschwindigkeit zur angegebenen Stelle fahren. Seenotrettung ist Tradition und gesetzliche wie moralische Pflicht, auch wenn die Lage absichtlich herbeigeführt wird, zum Beispiel durch Zerstörung des Motors oder Zerstechen des Schlauchbootes.
In einem Gebiet 50 bis 60 Kilometer vor der libyschen Küste werden die Schiffe von Flüchtlingsbooten auch „direkt angepeilt“, wie der Hamburger Reeder Christopher Opielok „Spiegel online“ berichtet. „Wir gehen davon aus, dass die Schlepper unsere Koordinaten kennen.“ Seine Spezialschiffe versorgen zwei Ölplattformen im Mittelmeer, wenn sie nicht gerade im Rettungseinsatz sind. Aus Ärger über die EU, „die einfach nur zusieht“, geht der Eigner im Frühjahr an die Öffentlichkeit und schildert die „fürchterlichen Szenen“, die sich bei einer solchen Rettung abspielen.
Traumatische Erlebnisse für alle Beteiligten
Völlig überladene Boote kippen um, weil die Menschen auf die rettende Seite drängen. „Sehr viele Leute ertrinken vor den Augen unserer Mannschaften, darunter Babys, die aus Schwimmwesten rutschen. Und auch wenn die Flüchtlinge bei uns an Bord sind, erfrieren sie manchmal, weil sie tagelang auf dem Meer getrieben sind.“
Seine Crews würden sich in Lebensgefahr begeben, sagt Opielok. „Die Flüchtlinge sind manchmal aggressiv, es ist ungewiss, ob einige an schweren Krankheiten leiden.“ Manche sind bewaffnet. Traumatisierte Seeleute weigern sich, im Mittelmeer zu fahren, einige reichen die Kündigung ein.
Vom „irrsinnigen Stress“ an Bord berichtet auch Svantje Domizlaff, Pressesprecher der Hamburger Reederei Claus-Peter Offen. Von Oktober 2014 bis April 2015 holen deren Seeleute 2500 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. „Ein Containerschiff hat bis zu zehn Meter hohe Bordwände. Man kann nur Leitern und Netze hinaushängen, und dann müssen die Menschen versuchen hochzukommen“, sagt Domizlaff der Berliner „tageszeitung“. Das sei schwierig, „zumal die meisten Flüchtlinge nicht schwimmen können. Sie sind dehydriert, unterkühlt und wollen nur raus aus dem Wasser“.
Die Besatzung, zehn bis 15 Mann groß, ist nicht darauf vorbereitet, mehrere Hundert Flüchtlinge zu versorgen. Man leistet „ein bisschen Erste Hilfe“, gibt „800 Portionen Essen“ aus und setzt die Menschen dann an der italienischen Küste ab. „Wenn man hier darüber erzählt, redet sich alles so leicht“, erzählt Domizlaff. „Aber wenn man vor Ort ist und weiß, was für arme Schweine das sind, die da rausgeholt werden, sieht das anders aus. Das geht einem an die Nieren.“
Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab
Ende April schlagen die Reeder Alarm. In einem Brandbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert der VDR staatliche Hilfe. In dem Schreiben heißt es: „Unsere Besatzungen sehen die Menschen sterben, sie ertrinken vor unseren Augen oder erfrieren an Bord.“ Die Lage werde sich jetzt, wenn das bessere Wetter die Flucht scheinbar erleichtert, erheblich verschlimmern. Kurzfristig schlagen die Reeder eine Luftunterstützung vor. Eingeflogene Rettungskräfte sollen an Bord helfen, kranke Flüchtlinge zu versorgen. Langfristig müsse das Einsatzgebiet der „Triton“-Mission nicht nur – wie geschehen – ein wenig erweitert, sondern bedeutend vergrößert werden.
Dass sich die Lage für die Reeder Anfang Mai entspannt, liegt am Einsatz internationaler Kriegsschiffe im Mittelmeer. Deutschland und Frankreich entsenden zwei Kriegsschiffe, Großbritannien beteiligt sich mit drei Schiffen am Einsatz. Die von der Bundeswehr geschickten Schiffe, die „Schleswig-Holstein“ und die „Werra“, retten bis Anfang Juli fast 5700 Menschen aus Seenot.
„Seither haben wir eine starke Entlastung erfahren“, sagt Christof Schwaner, Pressesprecher des VDR. „Es gab zuletzt nur zwei Fälle, in denen deutsche Reedereien zu Rettungsaktionen beordert wurden.“ Aber wie soll es weitergehen? Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab. Die EU müsse das „Triton“-Gebiet bis an die libyschen Gewässer ausweiten und überwachen, meint Schwaner. „Denn dort starten die Flüchtlingsboote, und dort sind die Handelsschiffe unterwegs und landen an.“
Bis dahin bleibt den Reedern nur die Hoffnung, dass der Einsatz der Bundesmarine nicht irgendwann endet. Denn dann würde das Trauma von Neuem beginnen.