Interview: Lastenräder auf der Letzten Meile: ein Operations-Blick
Verstopfte Straßen, permanenter Parkplatzmangel, chronische Überlastung – deutsche Innenstädte platzen aus allen Nähten. Das macht die Paketzustellung auf der Letzten Meile für KEP-Dienstleister zur Herausforderung. Wenn es um die städtespezifische Umsetzung alternativer Zustellkonzepte geht, kommt den regionalen Operations-Bereichen der Paketdienstleister eine Schlüsselfunktion zu, denn sie kennen die individuelle Infrastruktur vor Ort am besten, steuern die logistischen Prozesse, die in die Letzte Meile münden, und strukturieren diese um. Neben der kontinuierlichen Elektrifizierung der Transporter-Zustellflotte sind Lastenräder für Hermes Germany ein weiterer Baustein, um die Zustellung in innerstädtischen Ballungsräumen zunehmend nachhaltiger zu gestalten. Der Paketdienstleister setzt Cargobikes bereits in verschiedenen Städten – von Berlin über Magdeburg bis Stuttgart – ein. 2022 erreichte der Paketdienstleister mit einer Million per Lastenrad zugestellten Sendungen einen Meilenstein. Damit Lastenräder als ernstzunehmender und praktikabler Baustein für das mengenintensive Paketgeschäft genutzt werden können, müssen logistische Prozesse umgebaut werden und Zahnräder nahtlos ineinandergreifen.
In der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt werden Päckchen und Pakete seit Sommer 2022 in ausgewählten Postleitzahlengebieten per Cargobike zugestellt. Was aus operativer Sicht nötig ist, um die vergleichsweise noch junge Fahrzeugkategorie in eine Last-Mile-Strategie zu integrieren, erklären Thomas Wirth, Area Manager Kassel bei Hermes Germany, und Konrad Greis, Last Mile Manager für die Stadt Erfurt, im Interview.
Thomas, Konrad, Lastenräder sind als Ergänzung zu Elektro-Transportern fester Bestandteil der operativen Strategie von Hermes Germany für eine emissionsfreie Zustellung in deutschen Innenstädten. Was genau sind das für Lastenräder in Erfurt und seit wann setzt ihr diese ein?
Konrad Greis: Im Juli 2022 erfolgte die Auslieferung der ersten zwei Cargobikes des Herstellers ONOMOTION. Seit Mitte August haben wir im Schnitt vier von fünf dieser Lastenräder für die Zustellung in Erfurt im Einsatz.
Thomas Wirth: Allgemein steckt das Thema Zustellung per Lastenrad im Vergleich zur konventionellen Abwicklung noch in den Kinderschuhen. Zahlreiche Anbieter bringen ihre eigenen Modelle auf den Markt und wir testen gerade verschiedene Marken aus, um das beste Modell für unsere Ansprüche zu finden. Bei der Auswahl der richtigen Lastenräder spielen viele Faktoren wie die Beschaffenheit der Straßen, die Ladekapazität, die Witterung und natürlich auch die Reichweite der Akkus mit rein.
Was können Lastenräder in der Paketzustellung leisten?
Thomas Wirth: Mit den eingesetzten Fahrzeugen können wir pro Lastenrad in etwa 90 bis 100 Sendungen auf einmal befördern – das ist auch immer stark von der Sendungsstruktur abhängig. Die Laderaumkapazität umfasst etwa 200 Kilogramm und eignet sich besonders für kleinere Sendungen. Vollgeladen und beladen können wir mit dem eingebauten Akku in der Regel bis zu 30 Kilometer zurücklegen. Das ist für unseren innerstädtischen Betrieb also mehr als ausreichend. Natürlich haben Steigung und Kälte Einfluss auf die Akkulaufzeit. Deshalb haben unsere Zusteller*innen immer einen zweiten Reserve-Akku zum Austausch mit dabei.
Konrad Greis: Wir wickeln viele kleinere Päckchen- und Tütensendungen mit Lastenrädern ab. Nach Bedarf ist auch ein einfaches Nachladen an unserer Zustellbasis mithilfe von Wechselcontainern problemlos möglich. Und für die Sendungssicherheit ist mit dem Cargobike-Modell, mit dem wir derzeit arbeiten, auch gesorgt: Per Chip können unsere Zusteller*innen den Frachtraum schnell und einfach öffnen und wieder abschließen, wenn sie das Lastenrad bei der Sendungszustellung an der Haustür kurz zurücklassen müssen.
Innenstadtnähe als wichtiger Faktor für operativen Erfolg
Was ist Voraussetzung, damit die Paketzustellung auf der Letzten Meile per Lastenrad erfolgen kann?
Konrad Greis: Die Nähe zur Innenstadt muss gegeben sein. In Erfurt ist das durch die Zustellbasis unseres Servicepartners der Fall, wo die Sendungen und Touren geplant werden. Dort werden die Lastenräder am Ende des Tages stationiert und geladen. Unsere Erfurter Zustellbasis liegt ungefähr fünf Kilometer von der Innenstadt entfernt. Ab ungefähr einer Entfernung von neun Kilometern sind aus Operations-Sicht Mikrodepots in Innenstadtnähe zum Nachladen und Umsortieren der Lastenräder vonnöten.
Thomas Wirth: Da wir den Anspruch haben, Nachhaltigkeit ganzheitlich zu planen, soll perspektivisch auch die vorsortierte Ware bereits mit einem mit Grünstrom geladenen Elektro-Fahrzeug zur Zustellbasis transportiert werden, wo diese dann auf die Lastenräder für die Innenstadtbereiche umgeladen wird.
Wie viele CO2-Emissionen spart ihr durch die elektrische Zustellung in Erfurt ein?
Thomas Wirth: Durch die Umstellung unseres Last-Mile-Konzepts sparen wir jetzt schon ca. 30 Tonnen CO2 pro Jahr gegenüber unserem vorherigen Modell ein, indem wir mit bis zu fünf Lastenrädern unterwegs sind. Für sperrige Sendungen, die zu groß für den Laderaum der Cargobikes sind, haben wir derzeit noch einen herkömmlichen Transporter im Einsatz, perspektivisch wollen wir aber auch diesen gegen ein elektrisch betriebenes Fahrzeug tauschen.
Wie gestaltet sich die Umstellung vom herkömmlichen Transporter auf Lastenräder?
Konrad Greis: Grundsätzlich können wir mit einem Lastenrad eine Zuladung von 200 Kilogramm vornehmen, was sehr produktiv ist. Die Faustregel für uns in Erfurt lautet aus operativer Sicht, dass etwa zwei Cargobikes einen E-Transporter ersetzen können – das ist natürlich aber auch immer abhängig von den individuellen Gegebenheiten vor Ort. Wenn die Möglichkeit zum Nachladen des Lastenrads durch eine Zustellbasis besteht kann ein Lastenrad sogar mit dem Ladevolumen eines Sprinters im Einsatz mithalten. Für sehr sperrige Pakete und die Touren von und an PaketShops ist die Auslieferung mit einem E-Transporter vorgesehen.
Wie viele Zusteller*innen sind mit den Lastenrädern in Erfurt unterwegs?
Thomas Wirth: Am Tag ist aktuell für jedes unserer vier Lastenräder ein*e Zusteller*in auf einer festgelegten Tour während einer normalen achtstündigen Schicht im Einsatz. Grundsätzlich ist es aber möglich, dass pro Tag auch mehrere Personen mit einem Cargobike im Wechsel fahren, wenn Mitarbeitende beispielsweise halbtags arbeiten.
Was zeichnet diese Art der Zustellung aus operativer Sicht besonders aus?
Thomas Wirth: Heutzutage ist es kaum noch möglich, sich im Straßenverkehr in den viel zu überfüllten Innenstädten problemlos mit Pkw, Transporter oder gar Lkw fortzubewegen, geschweige denn Park- oder Haltemöglichkeiten zu finden. Mit dem Lastenrad passen wir uns den Gegebenheiten in Ballungsräumen wie Erfurt optimal an. Die Lastenräder, mit denen wir arbeiten, können bis zu 25 km/h fahren und sind trotz der schweren Ladung dank des integrierten Pedelec-Antriebs sehr leicht zu treten. Damit sind wir deutlich effizienter unterwegs, können Fahrradstellplätze und -wege nutzen sowie problemlos in Fußgängerzonen zustellen. Zudem sind Lastenräder auch deutlich agiler als Transporter, sodass man damit auch in kleineren, schmaleren Einbahnstraßen problemlos ausliefern kann, ohne den Verkehr zu blockieren.
Konrad Greis: Was auch sehr bedeutend ist: Man braucht keinen Führerschein für das Lastenrad. Viele junge Leute – besonders in den Metropolen – machen zum Beispiel aufgrund der prekären Parkplatzsituation in Innenstädten gar keinen Führerschein mehr. So können wir beim Thema Personalsuche auch eine ganz neue Zielgruppe erreichen. Der Lastenradeinsatz bietet sich optimal dafür an. So sind unter anderem viele junge Mütter und Väter in der Zustellung tätig, die auch stundenweise arbeiten. Das bezieht sich aber nicht nur auf unseren Standort in Erfurt, sondern ist bundesweit der Fall.
Worauf ist bei der Zustellung mit Cargobikes zu achten?
Konrad Greis: Zusteller*innen, die mit dem Lastenrad unterwegs sind, sind aktiv und sportlich, haben Lust auf Bewegung an der frischen Luft und haben im besten Fall die Möglichkeit, ihr Hobby mit dem Beruf zu verbinden. Für uns ist im Vorfeld eine Eingewöhnungszeit mit den Lastenrädern für das Personal zu berücksichtigen.
Thomas Wirth: Auch eine andere Arbeitskleidung ist nötig, denn die Zusteller*innen sind körperlich viel aktiver und der Witterung stärker ausgesetzt. Deshalb gibt es Thermounterwäsche und die gesamte Arbeitskleidung ist für mehr Bewegungsfreiheit und hohen Tragekomfort – ähnlich wie im Outdoor-Bereich – ausgerichtet. Dazu zählen unter anderem auch Helm, Regenjacke und Handschuhe. Zwar sind die eingesetzten ONO-Räder überdacht, mit Windschutz und Scheiben ausgestattet, nichtsdestotrotz haben wir mit der Bekleidung zusätzlich vorgesorgt.
Konrad Greis: Und man braucht eben ein etwas anderes Konzept zum Nachladen der Sendungseinheiten. Denn unsere Zusteller*innen kommen häufiger zurück zur Zustellbasis als im Vergleich zum Sprinter. Außerdem sammeln wir aktuell noch zahlreiche Daten und Erfahrungen, wie sich etwa das Wetter auf die Reichweite auswirkt. In Erfurt befinden wir uns am Rande des Thüringer Waldes, das heißt im Winter sind Schnee und Eis keine Seltenheit und können sich auch auf die Arbeit mit dem Lastenrad auswirken. Das ist mit Transportern nicht anders – auch hier können sich Schnee und Glätte auf die operativen Abläufe auswirken. Im Lastenradbereich müssen wir hier aber noch weitere Erfahrungen sammeln. Ebenso in Bezug auf die Frage, wie sich (Wartungs-)Kosten, Steuern und Versicherungen im Vergleich zum Transporter verhalten. Durch den relativ jungen Lastenradmarkt passiert derzeit noch viel und wandelt sich. All das berücksichtigen wir in puncto Operations.
Innovation auf der Letzten Meile, die in Erfurt gut ankommt
Wie ist die Resonanz bisher in Erfurt?
Thomas Wirth: Das ist eine sehr positive und vor allem nachhaltige Zustellmethode, mit der wir als Hermes Germany bereits in einigen deutschen Innenstädten unterwegs sind. Wir sehen Lastenräder auf jeden Fall als einen sinnvollen Baustein für die Zukunft der Letzten Meile in Ballungsräumen. Es macht Spaß, diese Innovation weiter voranzutreiben.
Konrad Greis: Die Cargobikes sind ein echter Hingucker in Erfurt. Ich wurde sogar schon privat darauf angesprochen und auch von unseren Kund*innen wird uns ein tolles Feedback entgegengebracht.
Thomas Wirth: Oft werden sogar Bilder von den Lastenrädern gemacht, was uns natürlich freut und zeigt, dass die emissionsfreie Lastenradzustellung auf das Interesse der Öffentlichkeit trifft. Das kommt dann im Umkehrschluss auch wieder der Personalsuche zugute.
Wird die emissionsfreie Zustellung in Erfurt noch ausgebaut?
Thomas Wirth: In Erfurt liefern wir mit den Lastenrädern aktuell in drei Postleitzahlgebieten aus und haben vor, dies sukzessive weiter auszubauen. In Planung ist eine Erweiterung in den Norden und Westen der Stadt. Unser Ziel ist es, in der kompletten Innenstadt mit Lastenrädern zuzustellen.
Konrad Greis: Bei der Erweiterung müssen wir prüfen, ob dann doch ein gesondertes Mikrodepot infrage kommt und in welcher Form. Das bedarf entsprechender Klärung mit der Stadt Erfurt. Wir als Auftraggeber testen bundesweit weiterhin auch andere Cargobike-Modelle, arbeiten in Erfurt aber derzeit hauptsächlich mit ONOMOTION. Wir haben immer einen Blick auf den noch jungen Markt, um zu schauen, was sich da noch alles tut.
Vielen Dank für das Gespräch!