Virtuelle Erlebniswelten Handel auf dem Holodeck

Mit Hilfe der virtuellen Realität erschafft der stationäre Handel einzigartige Shopping-Erlebnisse für Kunden. Aktuelle Konzepte zeigen, wie vielfältig die Einbindung der digitalen Welten in den Kaufprozess sein kann.

Auf der Münchner Sportmesse ISPO im Februar 2017 stürzen sich Besucher eine virtuelle Abfahrtspiste hinab. (Foto: Kurt Fuchs/ Fraunhofer IIS)

Wohnzimmer in 3D, interaktive Schaufenster oder sogar virtuelle Abfahrtspisten – mit neuen Technologien der virtuellen Realität erschafft der stationäre Handel für seine Kunden einzigartige Erlebniswelten. Aktuelle Konzepte zeigen, wie vielfältig die Einbindung der digitalen Welten in den Kaufprozess sein kann.

Auf Sturzhelme dürfen die Skifahrer verzichten, die auf der Sportmesse ISPO Munich 2017 die steile Piste hinunterjagen. Und statt der Skibrillen, die sie im Freien vor Sonne und Schnee schützen, tragen die Wintersportler dunkle Datenbrillen auf der Nase. Mit ihnen tauchen die Besucher in eine virtuelle Winterlandschaft hinein, 40.000 Quadratmeter groß, in der sie mit Hundert Avataren in Echtzeit agieren. Diese künstliche Erlebniswelt hat im Februar 2017 das Bekleidungsunternehmen Bogner in die Halle B1 der Münchner Messe gezaubert. Die nötige Technologie, HolodeckVR genannt, stammt vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS).

Virtuelle Realität gemeinsam erleben

HolodeckVR nutzt unterschiedliche hochpräzise Lokalisierungstechnologien wie die sogenannten Echtzeit-Tracker, die drahtlos über Wlan mit den Virtual-Reality-Brillen verbunden sind, um sich frei in der virtuellen Welt bewegen zu können. Dazu behebt HolodeckVR ein paar alte Kinderkrankheiten der Technologie. „Wir haben bei virtueller Realität neben dem fehlenden Content für die breite Masse vor allem das Problem, dass man die Erfahrung nicht gemeinsam mit anderen machen kann, dass man örtlich gebunden ist und durch die Bewegung teilweise Übelkeit hervorgerufen wird“, erklärt Stephan Otto, Projektleiter am Fraunhofer IIS. Das HolodeckVR biete für alle Punkte „einzigartige und völlig neue Lösungen.“ Content-Partner wie Bogner, der früher im Nebenberuf Ski-Stunts für die „James-Bond“-Filme drehte, sorgen dann für spannende Erlebnisse.

Statt virtuelle Realität allein und unbeweglich zu erleben, so Otto, können sich auf einer Fläche, die so groß ist wie vier Fußballfelder, mehrere Personen gleichzeitig frei bewegen und mit über hundert anderen Usern umgehen, die ihm als Avatare angezeigt werden.

Was für die Besucher eine Riesengaudi war, bedeutet einen großen Schritt in Richtung Digitalisierung im Sportfachhandel. Ziel des Fraunhofer-Projekts ist die breite Vermarktung der HolodeckVR-Technologie über ein eigenes Spin-off-Unternehmen.

Möbel-Showroom: Produkte nach Tageszeit vergleichen

Mit hochaufgerüsteten Brillen bewegen sich auch die IKEA-Kunden im Showroom „Virtual Home Experience“. Bei diesem Pilotprojekt in Berlin-Lichtenberg können sich die Besucher ihre Möbel in unterschiedlichen Varianten selber zusammenstellen. Materialien, Texturen und Wandfarben sind wählbar. Und ein Tageszeitwechsel macht es möglich, die Produkte in unterschiedlichen Lichtstimmungen zu vergleichen.

Digitale Erlebniswelten geben stationären Händlern die Chance, neue Kunden zu gewinnen, sie häufiger in das Geschäft zu locken und ihnen ein besonderes Einkaufserlebnis zu bieten. Dabei muss es nicht immer die Erzeugung ganzer Welten sein. Es geht auch eine Nummer kleiner: Ein Beispiel ist die virtuelle Anprobe vor dem Schaufenster eines Geschäfts. Darauf hat sich Mesut Yilmaz, Geschäftsführer von Magic Schaufenster in Herne, spezialisiert.

Magic Mirror als Aufmerksamkeitsmagnet für Passanten

„Es ist wirklich ein neues Werbemedium. Früher gab es Magazine und Zeitschriften, Plakate, Internet usw. Jetzt steht auch Augmented Reality zur Verfügung und das schafft eine ganze Reihe an Möglichkeiten, um den Geschäftserfolg zu steigern“, sagt Yilmaz. Bei der Augmented Reality („Erweiterte Realität“) werden den Kunden computergenerierte Informationen in Echtzeit zur Verfügung gestellt, die ihre realen Wahrnehmungen ergänzen. Sicherlich könne es nicht die Internetwerbung ersetzen, man könne aber „bei einer Kombination von Internetwerbung mit Augmented Reality-Werbung großartige Resultate erzielen.“

Zum Magic Mirror gehören eine Kamera, ein Bildschirm hinter dem Schaufenster und eine Software. Die Passanten vor dem Schaufenster können per Gestensteuerung ihre Kleidung über den Bildschirm auswählen. Der Monitor wird zum Spiegel, vor dem Passanten Pullover, Hemden oder Jacken anprobieren.

„Was nach einem puren Spaß abends beim Window-Shopping aussieht, bietet Händlern neue Möglichkeiten, die Aufmerksamkeit von Passanten zu gewinnen“, sagt Yilmaz. Ähnlich wie ein Online-Shop können stationäre Geschäfte ihre Angebote und ihren Service rund um die Uhr präsentieren. Und sie erhalten mit Hilfe der Software wertvolle Informationen über das Verhalten und die Wünsche der Kunden.

Online ist noch weit voraus

In dieser Hinsicht sind Webshops immer noch überlegen. Diese wissen genau, wo geklickt wurde, welche Produkte ihre Kunden in der Vergangenheit gekauft haben, auf welche Aktionen sie ansprechen und nach welchen weiteren Produkten sie suchen. Die modernen Verkaufssysteme können ihnen dank ausgeklügelter Algorithmen personalisierte Produkte vorschlagen, die ihnen gefallen könnten.

Noch einen Schritt weiter geht das Open-Commerce-Konzept des im Mai 2014 gestarteten Onlineshops About You, der zum Fashion-Start-up Collins gehört. Hierbei handelt es sich um eine Technologie- und Business-Plattform mit angeschlossenem Ökosystem. Das heißt: Händler bieten bei About You ihre Waren an, Softwarepartner entwickeln eigene Apps für den Onlineshop, Mode-Blogger richten Profile ein und stellen aus dem Sortiment persönliche Produktempfehlungen für ihre vornehmlich jungen Follower zusammen. Wer die Shopping-Welten von About You betritt, lässt sich inspirieren und unterhalten, richtet sich dort ein und kommt gerne wieder. „Unsere Kunden bleiben uns treu, das zeigt zum Beispiel unsere überdurchschnittlich hohe Wiederkaufsrate“, sagt Collins-Gründer und CEO Benjamin Otto. „Die Mission Inspiration geht auf.“ Auf mehr als eine halbe Million aktive Kunden kommt Collins bereits im ersten Jahr, 80 Prozent sind Frauen, 20 Prozent Männer – in der angestrebten Kernzielgruppe zwischen 20 und 40 Jahren.

Gesichter erkennen, Wünsche analysieren

Wie können Einzelhändler ihre Kunden besser kennenlernen und ihnen am Point of Sale interessante Angebote unterbreiten? Immerhin werden 70 bis 80 Prozent der Kaufentscheidungen erfahrungsgemäß erst dort gefällt. Die Lösung: Viele Geschäfte setzen Online-Terminals und große Displays ein. Beim stationären Ableger des Online-Shops myToys im neuen Einkaufszentrum „Perle Hamburg“, einer Kombination aus Gastronomie und Einzelhandel, können Kunden zum Beispiel am PC stöbern und solche Produkte in die Filiale ordern, die gerade nicht vorrätig sind („Click & Collect“). myToys gehört mit derzeit 16 Ladengeschäften zu den Pionieren im Multichannel-Handel.

„Der stationäre Handel ist für uns eine sehr wichtige strategische Komponente, entsprechend planen wir jährlich die Eröffnung von etwa zwei neuen Filialen“, sagt myToys-Gründer und Geschäftsführer Dr. Oliver Lederle. „Unsere Ladengeschäfte zahlen positiv auf die Marke myToys ein. Darüber hinaus wächst das Online-Geschäft dort überproportional, wo wir eine Filiale haben.“

Im Zeitalter der Digitalisierung gilt es als Nächstes, die Displays mit smarten Lösungen zu verbinden, die das Kundenverhalten über optische Sensoren auswerten. Eine solche Lösung hat das Fraunhofer IIS mit seiner Streaming Analytics Plattform namens AVARD (Anonymous Video Analytics for Retail and Digital Signage) entwickelt. Zu den Lizenznehmern zählt der Datenlieferant für Marktforschung Pyramics.

Das Herzstück dieses Systems ist eine Gesichtserkennungssoftware. Sie erkennt Alter, Geschlecht und Gesichtsausdruck in Echtzeit und analysiert diese Informationen in anonymisierter Form. Sie erkennt auch, wie viele Kunden wie lange vor welchem Produkt stehenbleiben oder welcher Bereich nicht so gut besucht ist. Tummeln sich mehr Männer im Geschäft, zeigen die digitalen Werbetafeln Elektronik-Angebote.

Neben der passgenauen Werbung auf den Displays sind die Händler dank der gewonnenen Informationen auch in der Lage, ihren Kunden Mehrwert zu bieten und nützliche Tipps zu den gesuchten Artikeln oder Montage- sowie Pflegeanleitungen auf den Displays anzuzeigen. Das erhöht die Verkaufszahlen und verbessert die Kundenbindung.

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