KI im Online-Handel So shoppen die Deutschen

Rund 90 Milliarden Euro werden hierzulande im E-Commerce umgesetzt. Welche Waren werden am häufigsten online bestellt? Wie hilft Künstliche Intelligenz (KI), das Einkaufserlebnis zu individualisieren? Und wie wirken sich aktuelle Trends auf das Geschäft der KEP-Anbieter aus? Dr. Nicolai Johannsen, Vice President Consumer Interactions bei OTTO, hat Antworten. Auch auf die Frage, wann die Nachfrage nach Ventilatoren steigt und welche Muttertagsgeschenke wo am beliebtesten sind.

Paketsortierung im Hermes Depot Witten (Foto: Hermes Germany/Willing-Holtz)

Herr Dr. Johannsen, mit 18 Millionen Artikeln und mehr als zwölf Millionen Kundinnen und Kunden weiß OTTO, was und wie die Deutschen online einkaufen. Welche Produkte sind am beliebtesten?

Dr. Nicolai Johannsen: Den größten Anteil mit rund einem Drittel macht der Fashion-Bereich aus, dicht gefolgt von Technik & Medien. Sehr stark wachsend seit der Corona-Pandemie ist Home & Living, wozu auch Möbel zählen. Und zwar über alle Altersklassen hinweg: Von der Einrichtung fürs Jugendzimmer bis zur Ausstattung des Eigenheims. Hier können wir mit speziellen Dienstleistungen punkten, etwa der Altgerätemitnahme oder dem 2-Mann-Handling via Hermes Einrichtungs Service.

Wie haben sich die Top-Kategorien in den vergangenen Jahren verändert?

Dr. Nicolai Johannsen: Da gibt es keine größeren Verschiebungen. Spannend ist aber, dass neue Produktgruppen aufholen, etwa Gesundheit & Wellness oder Lebensmittel – was aufgrund des Frische-Themas die logistische Komplexität für KEP-Anbieter nochmal erhöht. Gewandelt haben sich auch die Kanäle, über die uns Menschen erreichen: Mehr als 85 Prozent bestellen inzwischen von Mobilgeräten aus, mehr als 60 Prozent per App.

Dr. Nicolai Johannsen (Foto: OTTO)

Beobachten Sie regionale Unterschiede im Käuferverhalten?

Dr. Nicolai Johannsen: Pauschal nur wenige. Ausschläge nach oben sehen wir höchstens im Fashion-Bereich. Er hat in ländlichen Regionen einen größeren Anteil, weil es dort weniger stationäre Angebote gibt. Und: Zu besonderen Anlässen zeigen sich dann doch unterschiedliche Vorlieben in einzelnen Bundesländern. An Muttertag etwa führen Tassen, Dekofiguren und Schlüsselanhänger das Ranking der beliebtesten Geschenke in Baden-Württemberg an; in Rheinland-Pfalz finden sich Kunstpflanzen unter den Top 3. Zum Vatertag sind allgemein Shirts, Tassen und Gläser beliebt – doch in Bayern gehören auch Socken zu den Favoriten. 

Welche saisonalen Besonderheiten gibt es?

Dr. Nicolai Johannsen: Das Weihnachtsgeschäft rutscht zeitlich immer weiter nach vorne. Früher war der Dezember unser umsatzstärkster Monat, heute ist es der November – sicher auch getrieben vom Black Friday, den viele Menschen inzwischen für Weihnachtseinkäufe nutzen. Neben diesem klassischen Peak gibt es immer wieder auch kleinere Spitzen, ausgelöst durch Sondersituationen. Ein Beispiel: Während der Rekordhitzewelle Ende Juni und Anfang Juli stieg die Nachfrage nach Ventilatoren bei uns um mehr als 120 Prozent, bei Klimageräten waren es sogar fast 150 Prozent. Und es wurden rund ein Drittel mehr Bikinis bestellt als für gewöhnlich.

„Conversational Commerce wird immer wichtiger“

Wir haben jetzt darüber gesprochen, was die Menschen kaufen. Lassen Sie uns darüber reden, wie sie das tun. OTTO nutzt rund 65 KI-Anwendungen, um das Einkaufserlebnis zu verbessern. Wo setzen Sie dabei an?

Dr. Nicolai Johannsen: Ein zentrales Thema ist Personalisierung: Otto.de und die App-Oberfläche sehen für jeden Nutzer anders aus, je nachdem welche Produkte er oder sie bislang gekauft hat. So können wir überall auf der Website unterschiedliche Produkte und Angebote ausspielen, je nach persönlicher Affinität. Ohne KI wäre das nicht möglich. Sie ermöglicht auch, dass Rezensionen anhand bestimmter Schlagworte wie Größe oder Qualität gefiltert werden können und schafft so einen besseren Überblick über die Produktbewertungen.

Besonders spannend ist der Einsatz von KI bei der Suchfunktion: Mit Hilfe von Machine Learning werden bei jeder Suchanfrage Millionen von Datenpunkten berücksichtigt – etwa Preis, Lieferzeit oder Bewertungen –, um den Nutzerinnen und Nutzern die relevantesten Ergebnisse zu liefern. Unsere Search-Engine „versteht“, was Kundinnen und Kunden wollen, weil sie die erweiterte Bedeutung hinter den Suchworten erkennt und aus dem User-Verhalten lernt. Dank dieser KI-gestützten „semantischen Suche“ haben sich die Klickraten auf „ähnliche Artikel“ um bis zu 50 Prozent erhöht; die Click-Through-Rate ist bis zu 26 Prozent höher.

Kann die KI Kundinnen und Kunden auch direkt beraten?

Dr. Nicolai Johannsen: Absolut. Ein KI-gestützter Chatbot hilft bei Fragen und Entscheidungen während des Einkaufs. Man kann etwa fragen, welche Schuhe bei der Einladung zu einer Hochzeit angemessen sind – und erhält eine Einordnung mit passenden Produktvorschlägen. Dieser „Conversational Commerce“ wird immer wichtiger; wir arbeiten gerade an einem dialogbasierten Modell, das noch präzisere Empfehlungen gibt und auch Spracheingaben verarbeiten und gesprochen antworten kann. Bis zum Black Friday im November soll es fertig sein – dann können Sie mit der KI wie mit einem Freund oder einer Freundin plaudern. Ideal für Menschen, die beim Einkaufen Wert auf gute Beratung und ein entspanntes Erlebnis legen, fast wie wir es vom stationären Handel gewohnt sind. Auch für uns als Unternehmen wird das spannend: Welche Fragen haben die Kundinnen und Kunden? Auf welche Produkteigenschaften achten sie? Und an welcher Stelle tauchen sie auf?

Je wohler sich die Menschen beim Online-Shopping fühlen, umso mehr kaufen sie. Das wiederum treibt das Paketvolumen, das von Hermes Germany und anderen KEP-Anbietern transportiert wird. Wie gut können Sie Peaks bei den Bestellungen vorhersagen, damit sich etwa Paketdienstleister rechtzeitig darauf einstellen können?

Dr. Nicolai Johannsen: Auch hier ist KI mittlerweile unverzichtbar geworden – sowohl bei unserer Logistiktochter Hermes Germany wie bei OTTO selbst. Für unsere Absatzprognosen analysieren wir täglich den möglichen Verlauf für rund 2,5 Millionen Artikelnummern in den nächsten 450 Tagen. Pro Monat kommen wir damit auf mehr als 30 Milliarden Einzelprognosen für eine optimierte Logistik. Die Daten umfassen unter anderem historische Verkaufszahlen, saisonale Trends, Feiertage oder geplante Marketingaktivitäten. Auch das Wetter beziehen wir mit ein – so konnten wir die erwähnte große Nachfrage nach Ventilatoren rechtzeitig antizipieren.

„Das Suchen und Finden wird sich radikal verändern“

Welche zentralen Trends sehen Sie in den kommenden Jahren für den E-Commerce, die sich auch auf das Paketvolumen auswirken?

Dr. Nicolai Johannsen: Ich bin überzeugt, dass das Suchen und Finden, wie wir es heute kennen, an Bedeutung verlieren wird, weil Conversational Commerce viel intuitiver ist. Menschen werden sich viel natürlicher durch die Sortimente bewegen werden, anstatt endlose Listen mit Suchergebnissen durchzuscrollen. Auch Social Commerce – also der Einkauf über Plattformen wie TikTok & Co. – wird an Bedeutung zunehmen. Der nächste Schritt wird dann agentische KI sein: Autonome Einkaufsassistenten, die unsere Interessen und Bedarfe kennen, verschiedene Shops durchsuchen, Preise und Verfügbarkeit vergleichen und das passende Produkt bestellen. Ohne dass wir manuell noch etwas tun müssen, denn dann sprechen Maschinen mit anderen Maschinen. After-Sales-Agenten beantworten proaktiv Rückfragen, melden sich bei Versandproblemen und schlagen Rücksendungen oder Alternativprodukte vor. Das wird auch für die KEP-Branche ein großer Umbruch werden.

Klingt etwas freudlos – wo bleibt denn da das Einkaufserlebnis?

Dr. Nicolai Johannsen: Die Online-Einkaufsprozesse werden sich ausdifferenzieren. Low-Involvement-Produkte wie Hundefutter oder Toilettenpapier werden wir künftig häufiger über agentische KI besorgen. Aber bei Dingen, die uns am Herzen liegen, wie zum Beispiel Abendkleider oder eine schöne Uhr, bleiben Empfehlung und Erlebnis weiterhin wichtig. Aber auch hier verändert sich die Shopping-Journey: Wir sehen das z.B. am Live-Shopping, einem der am schnellsten wachsenden Trends im E-Commerce. Dabei werden in Echtzeit-Videostreams Produkte vorgestellt, erklärt und verkauft, meistens mit exklusiven Angeboten und direkter Interaktion zwischen Host und Zuschauern, die im Chat Fragen etwa zum Material oder zu besonderen Rabatten stellen können. Es ist ein bisschen wie Teleshopping, aber viel nahbarer und dialogischer, weil es eine Art Gemeinschaftsgefühl schafft. Zu den Live Shopping-Streams von otto.de kommen regelmäßig bis zu 100.000 Zuschauer.

Sowohl bei agentischer KI als auch bei Conversational Commerce und Live-Shopping steht für Kundinnen und Kunden im Zentrum der Gedanke: Ich werde wiedererkannt und bekomme die für mich ideale Shopping Journey vorgeschlagen. Für Verbrauchsprodukte eine schnelle, unkomplizierte Ersatzbeschaffung – und für High-Involvement-Produkte eine ausgezeichnete, hochindividualisierte Beratung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weiterlesen
Nächster Artikel