Drohnen: Die summenden Helfer
Die Flugroboter sind in der Lage, in Lagerhallen selbständig zu navigieren und aufwendige Inventuren durchzuführen. Das spart Zeit und Geld. Getrieben von Industrie, Landwirtschaft und Handel wächst der Markt rasant.
Marco Freund hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Er will die Menschheit von einem lästigen, aber notwendigen Übel befreien: von der Geißel der Inventur. Die Lösung, an dem der Dortmunder Forscher seit zwei Jahren tüftelt, hat einen Durchmesser von knapp einem Meter, verfügt über sechs kleine Propeller und wird im Volksmund Drohne genannt.
Der Diplom-Logistiker am Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML) spricht lieber von Flugroboter. Das klingt mehr nach Industrie 4.0 und moderner Arbeitswelt. In der Ruhrgebietsstadt leitet Freund das Open-ID-Center. Auf einer Fläche von 1500 Quadratmetern entwickelt er Logistiksoftware und Auto-Identifikationssysteme. Dort koordiniert der Wissenschaftler auch das Forschungsprojekt „Inventairy“, das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI) gefördert wird und schon jetzt für reichlich Aufsehen sorgt. Zwar soll erst Ende 2016 ein Prototyp Marktreife erlangen, doch an Freunds Flugsystem knüpfen sich so viele Hoffnungen, dass „Inventairy“ von Volkswagen zur „Innovative Logistics Solution“ 2015 gewählt wurde.
Nie wieder Leitern in Lagerhallen erklimmen, heißt das Versprechen. Mindestens einmal im Jahr ist die „körperliche und buchmäßige Bestandsaufnahme“ aller Vermögensgegenstände und Schulden gesetzlich vorgeschrieben. Das Messen, Wiegen und Zählen raubt viel Zeit, es beansprucht enorme Ressourcen, erfordert einiges Geschick beim Aufstieg auf die Hochregale und bringt den Lagerbetrieb immer wieder zum völligen Erliegen. Die Inventur Robotern zu überlassen, ist vielleicht kein uralter Menschheitstraum, aber ein dringlicher.
„Wir entwickeln ein System zur automatischen Lokalisierung und Inventarisierung von Lagerbeständen mit Hilfe autonomer Flugroboter“, berichtet Freund. Die Drohne werde autonom durch ein Lager navigieren können, logistische Objekte selbständig erfassen und die Inventur permanent durchführen. Sie soll für Innen- wie Außenlager einsetzbar und nahtlos mit existierenden Lagerverwaltungssystemen vernetzbar sein.
Der Markt für fliegende Roboter wächst rasant
Um das alles leisten zu können, ist der Flieger „mit einer Vielzahl von Steuerungs- und Erfassungssystemen zur Objektidentifikation“ ausgerüstet: mit Funklesegeräten (RFID-Reader), Smart-Kameras, Ultraschalsensoren und Barcode-Lesegerät. Da in Hallen keine GPS-Signale zu empfangen sind, nutzt der Flieger andere Techniken zur Orientierung: einen Laser-Distanzmesser sowie eine semantische Karte, die im Flug fortwährend aktualisiert wird. „Es ist eine Riesenbaustelle“, sagt Freund. Auf der herrscht Arbeitsteilung: Das IML ist für die Identifikation zuständig, der Lehrstuhl Autonome Intelligente Systeme an der Universität Bonn kümmert sich gemeinsam mit dem Kopter-Hersteller Aibotix ums autonome Navigieren.
Digitale Technologien, Miniaturisierung und Satellitennavigation haben den zivilen Flugdrohnen in den letzten Jahren einen enormen Schub verliehen. Von einem Piloten per Joystick gesteuert putzen sie Fenster, bestäuben Felder, dienen als Kameraträger für TV-Luftaufnahmen, liefern Medikamente aus oder erforschen die Wanderungen der Wale.
Qualitätsverbesserung durch die Inspektion durch Drohnen
Getrieben von Industrie, Landwirtschaft und Handel wächst der Markt für die fliegenden Roboter rasant. „Die globalen Umsätze werden von 100 Millionen Dollar in 2014 auf 3,5 Milliarden Dollar in 2017 steigen“, schätzt Herbert Machill, Geschäftsführer des Kasseler Unternehmens Aibotix aus. Als sein „Paradeprodukt“ bezeichnet der Firmenchef den Aibot X6. Dieser Kopter bildet die Basisplattform des „Inventairy“-Systems, und er kommt auch in einem weiteren, „Robotair“ genannten Forschungsprojekt zum Einsatz. Im Volkswagenwerk in Braunatal schwebt das mit einem Ultraschallsensor versehene Fluggerät in zehn Meter Höhe durch die Hallen, um Lecks in Pressluftleitungen zu entdecken.
„Wir sind als Hersteller erstmals richtig zum Zuge gekommen, als wir hochauflösende Kameras an den Kopter anbringen konnten“, sagt Machill. „Es war unser großer Durchbruch.“ Für Versorger wie RWE und Austrian Power Grid inspizieren die Propellermaschinen Hochspannungsleitungen, Masten und Umspannwerke, sie fliegen die Anlagen hinauf und zoomen sich nah an die Stromleitungen heran, um Risse und sonstige Beschädigungen im Detail zu dokumentieren. Bei der zweiten Inspektion haben die Fluggeräte schon dazu gelernt, sie fliegen vollautomatisch und stellen Anomalien fest, indem sie die Bilder miteinander vergleichen. Den Unternehmen geht es bei solchen Aufträgen „ausschließlich um Qualitätsverbesserung und nicht um Stellenabbau“, erklärt Machill. Was passiert denn, wenn diese Arbeiten von Menschen verrichtet werden? „Die Inspizienten rutschen oben auf den Leitungen entlang und schießen ihre Fotos aus nur einer Perspektive. Die Leitungen müssen vorher abgeschaltet werden, aber ein gewisses Sicherheitsrisiko bleibt bestehen.“
Der Einsatz im Flugverkehr dauert noch Jahre
Ein weiteres großes Anwendungsfeld ist die Vermessung landschaftlicher Flächen wie Steinbrüche oder Kohlehalden. „Die Kopter nehmen mit der Kamera überlappende HD-Bilder auf und generieren über GPS georeferenzierte Punktwolken und 3D-Modelle. „Die Kopter werden immer intelligenter, weil die Sensorik immer komplexer wird“, so Machill.
Hängt der Himmel bald voller Drohnen? Der Online-Händler Amazon hat im November seinen zweiten Paketflugroboter präsentiert, der 24 Kilometer fliegen kann, und wiederholt vorgeschlagen, den Luftraum zwischen 60 und 150 Metern – auch in Großstädten – für kommerzielle Flugsysteme gesetzlich freizugeben. Nach Ansicht von Machill ist ein autonomer Flugverkehr heute „nicht technisch, sondern rechtlich beschränkt“. Zwar dürfe in Deutschland jeder ein unbemanntes Flugobjekt von bis zu fünf Kilo in die Luft schicken. Doch die teils autonom fliegenden Kopter „müssen in Sichtweite der Piloten bleiben, damit sie notfalls eingreifen können“. Zehn Jahre könnten vergehen, bis alle Regularien der Flugsicherheit, des Betriebsrechts und der Haftpflicht angepasst sind.
Wer kommt bei einem Unfall eigentlich für den Schaden auf? Der Hersteller des Kopters oder der Zulieferer der Sensorik? Der Pilot oder der Programmierer? „Über diese Frage können Sie 100.000 Seiten schreiben“, meint der Wissenschaftler Marco Freund.