Interview zu intelligenter Verkehrsführung „Jeder bekommt seinen ‚Slot‘ auf der Straße.“

Insbesondere dort, wo es auf der Straße im wahrsten Sinne des Wortes eng wird – auf der Letzten Meile – bringt die intelligente Organisation von Verkehrsströmen Entlastung. Sebastian Heise, COO und Gründer des Hannoveraner Start-Ups Graphmasters, erklärt, wie Technologie und Datenverknüpfung die Lösung aller Stauprobleme sein können.

Es wird in Zukunft immer wichtiger die Kapazitäten für die Straßennutzung gut zu verplanen. Heute nutzen 90% der Fahrzeuge nur 10% der Straßen. Foto: Rolf Otzipka

Die Zukunft der Logistik ist eng mit der Zukunft der Mobilität verbunden. Im Straßenverkehr, insbesondere im urbanen Raum, kommen verschiedene Akteure und Mobilitätsmotivationen zusammen. KEP-Fahrzeuge machten in Bezug auf die gesamte Fahrleistung aller Kraftfahrzeuge in Deutschland 2016 0,7 Prozent aus, wie jüngst vom Bundesverband Paket- und Expresslogistik (BIEK) zusammengestellte Zahlen zeigen. Das Hannoveraner Start-Up Graphmasters ist Hermes-Projektpartner bei der Einführung einer neuen, intelligenten Tourenplanung, die u.a. Routen der Zusteller dynamisch anpasst, bevor ein Stau entsteht.


Sebastian, mit welchen Verkehrsmitteln bewegst du dich bevorzugt inner- und außerhalb der Stadt fort?

Sebastian Heise: Ich wohne draußen auf dem Dorf, da ist man ohne eigenes Auto aufgeschmissen. Für Graphmasters bin ich aber auch viel unterwegs und besuche viele Metropolen. In jeder funktioniert das Fortkommen unterschiedlich gut mit unterschiedlichsten Verkehrsmitteln. Ob Bahn, Taxi oder schlicht zu Fuß, ist letztendlich vom Termindruck, Wetter und auch den städtischen Möglichkeiten abhängig.

Das Verkehrsaufkommen weltweit und in Deutschland nimmt weiter zu, Mobilität ist ein absolutes Fokusthema, wenn es darum geht, wie wir zukünftig leben werden. Wie wird der Verkehr 2030 deiner Meinung nach aussehen?

Sebastian Heise: Ich erwarte eine zunehmend mobile Gesellschaft. Mobilität wird einfacher und immer günstiger. Stationäre Arbeitsplätze entfallen. Wir alle werden noch mehr Reisen, unterwegs sein. Insbesondere erwarte ich, dass junge Menschen früher „mobil“ werden und Alte länger „mobil“ bleiben. Der Bedarf nach individuellem Transport wird meiner Meinung nach eher zu- als abnehmen. Eine reibungslose Verzahnung zwischen verschiedenen Mobilitätsmöglichkeiten wird also spielentscheidend für die Zukunft.

Großteil des Straßennetzes nicht genutzt

Welche Herausforderungen gibt es, wenn es darum geht, Verkehrsströme intelligent zu leiten?

Sebastian Heise, COO und Mitgründer des Hannoveraner Start-Ups Graphmasters

Sebastian Heise: Bei der Nutzung der Straßen wird es immer wichtiger die Kapazitäten gut zu verplanen. Das heißt sowohl zeitlich, aber auch räumlich den Verkehr gut zu organisieren. Heute kämpfen wir im Wesentlichen mit dem Effekt, dass zu viele Leute zur gleichen Zeit die gleichen Straßen nutzen wollen. Es sei gesagt, dass 90% der Fahrzeuge nur 10% der Straßen benutzen. Während viel über den Stau geschimpft wird, wird ein Großteil des Straßennetzes gar nicht richtig ausgenutzt.

Graphmasters Technologie greift genau hier an: Wir arbeiten direkt mit den Verkehrsleitzentralen in Deutschland. Insbesondere bei Großveranstaltungen machen sich räumliche Verteilungen des Verkehrs schnell bemerkbar. Als nächstes helfen wir den 70.000 Besuchern beim „Eminem“ Konzert in Hannover bei der An- und Abfahrt. Diese können sich einfach die NUNAV App kostenfrei installieren und finden dann entspannt ihren Weg. So schon geschehen für die 200.000 Besucher des HAJ Marathon, wo wir minutengenau die Straßensperrungen für die Innenstadt abbilden konnten. In Dresden verweist die Navigation auf P+R Parkplätze außerhalb der Stadt und zeigt die freien Stellflächen in den Parkhäusern. Insbesondere die zunehmende Verknüpfung mit Infrastrukturanlagen eröffnet neue Potenziale: die systemweite Verknüpfung mit solchen Anlagen führt zu einer Halbierung der Wartezeit vor Ampeln.

Staus entstehen, wenn alle Fahrzeuge die gleichen Routen nutzen

Was unterscheidet die NUNAV-Technologie, die Graphmasters entwickelt hat, von anderen Navigationssoftwares?

Sebastian Heise: Bei herkömmlichen Systemen wie Google kann man beobachten wie immer alle Fahrzeuge auf die gleichen Routen geschickt werden. Aber gerade das erzeugt Staus. Zudem wird der Stau durch die eigenen Teilnehmer gemessen, das heißt irgendwer steht immer im Stau.

Unsere Fahrstreckenberechnung beachtet, wie oft Straßen bereits an andere Teilnehmer „vergeben“ worden sind; jeder bekommt seinen „Slot“ auf der Straße. Aus der Anzahl an Fahrzeugen auf einem Straßenstück lässt sich eine erreichbare Fahrgeschwindigkeit ermitteln. Daher schlägt NUNAV auch Fahrstrecken vor, auf die man selber gar nicht gekommen wäre.

Welcher Datenpunkte, welcher Informationen bedient sich eure Plattform, um Verkehr effizient zu managen?

Sebastian Heise: Wir ziehen möglichst viele Datenquellen hinzu. Graphmasters verschneidet stationäre Sensoren an den Straßen mit GPS-Messungen aus Mobilgeräten. Auch verwenden wir journalistische Informationen über Straßensperrungen aus verschiedenen Quellen. Während der Navigation mit NUNAV gleichen wir kontinuierlich ab, wie die ursprünglich geschätzte Geschwindigkeit mit der tatsächlichen Geschwindigkeit zusammenpasst. Dadurch wird NUNAV durch die Benutzung immer besser.

Effiziente Arbeitseinsatzplanung

Welche Besonderheiten gibt es bei der Entwicklung einer Routing-Software speziell für die Paketzustellung?

Sebastian Heise: Für die Paketzustellung müssen die Reisezeiten auf kurzen Distanzen sehr präzise sein. Eine durchschnittliche Fahrstrecke ist nur 0.72551 Minuten. Allerdings machen Zusteller Hunderte dieser kleinen Fahrstrecken am Tag. Wer hier unsauber arbeitet, unterschätzt die riesigen Abweichungen, die im Laufe des Tages zusammenkommen. Häufig werden die Reisezeiten unterschätzt – aber tatsächlich zählt jede Sekunde. Ich denke, jeder kennt die Straßenschilder für Gewichts- oder Größenbeschränkung von Fahrzeugen. Die vielen Vorgaben für Lieferverkehre übersieht man aber meist. NUNAV Courier ermöglicht es Arbeitseinsatzplanung am echten Aufkommen so zu planen, dass die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden, immer.

Doch alles funktioniert nur, wenn die Tourenplanung sich reibungslos in die bestehenden Geschäftsprozesse eingliedern kann, und dennoch genug Flexibilität bietet, um auf all die unvorhergesehenen Dinge zu reagieren, die letztlich ein Teil der Aufgabe sind.

Paketfahrer helfen beim Vermessen der Straßen in Innenstädten

Die NUNAV Technologie wird auch für das Verkehrsmanagement in Städten und bei Großveranstaltungen wie der Hannover Messe oder Konzerten eingesetzt. Welche Überschneidungen gibt es bei solchen Projekten mit den Anforderungen der Paketbranche?

Sebastian Heise: Einfach gesprochen: Alle treffen sich auf der Straße wieder. Zumeist werden Verkehrsgruppen einzeln betrachtet: der Messeverkehr, die Fußballfans, die Pendler, die LKWs, die Paketboten. Dabei wird vernachlässigt, dass alle die gleichen Straßen benutzen. „Der Messebesucher“ und „der Pendler“ haben ähnliche Ziele, zur selben Zeit. Am Ende sollten wir alle das Ziel verfolgen Energie- und Zeitaufwand zu vermeiden. NUNAV hilft auf Straßenebene all die Beziehungen zu verbinden. Paketfahrer helfen beim Vermessen der Straßen in den Innenstädten. Auch die Verknüpfung mit den Infrastruktureinrichtungen ermöglicht die nötige Präzision für professionelle Anwendungen. Für Verkehrsleitzentralen und städtische Verkehrsplaner bietet die Technologie erstmals wirkliche Werkzeuge zum Managen und Planen des Verkehrs.

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