Letzte Meile Experten-Diskurs: Das braucht es zum perfekten Lastenrad für Paketdienste

Pilotprojekte zeigen: Lastenräder sind auf der Letzten Meile ein sinnvolles Transportmittel. Um sie flächendeckend einsetzen zu können, bedarf es noch einiger Voraussetzungen und Weiterentwicklungen– hinsichtlich Technik, Geschäftsmodellen, Branchenstrukturen – und vielleicht sogar Gesetzen.

Pakettransport via Lastenrad (Foto: Shutterstock)

Pakete zustellen ohne Emissionen. Und dabei gleichzeitig Verkehr von der Straße bringen. Auf der Letzten Meile wird an Lösungen gearbeitet, die dies ermöglichen sollen. Ein Konzept, das dabei immer stärker im Fokus steht, ist die Belieferung mit dem Lastenrad. Zustelldienste, Ingenieure, Logistikexperten und Fahrradhersteller entwickeln bzw. testen Prototypen. Vom Cargobike bis hin zu Elektromobilen – Hermes hat bereits verschiedene Lastenrad-Modelle erfolgreich in unterschiedlichen Städten erprobt. Eine Frage steht mit Blick auf die Zukunft im Fokus: Können Lastenräder eine flächendeckende Entlastung für Umwelt und Verkehr leisten? Unterschiedliche Experten geben eine Einordnung.

Für Gregor Gaffga ist die Antwort auf diese Frage klar: „Wollen wir unsere Klimaschutzziele erreichen, sind gewerbliche Lastenräder ganz klar ein Teil der Lösung, besonders in dichtbesiedelten Innenstädten“, sagt der Radverkehrsbeauftragter der Stadt Konstanz und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußgängerfreundliche Kommunen (AGFK).

Nebenbei könnte dies nach Ansicht von Experten auch im Hinblick auf den Personalmangel in der Logistikbranche Möglichkeiten eröffnen. „So kann man auch eingefleischte Fahrradzusteller ansprechen, die nie in einen LKW steigen würden“, sagt Martin Seißler, Radlogistikberater, Gründer des Radlogistikers Velogista und Mitgründer des Radlogistikverbands. Obendrein, so Seißler, seien Lastenräder auch wirtschaftlich – wenn man richtig rechnet. „Würde man die Umweltkosten einpreisen, wären bereits die Lastenräder, die es heute gibt, gegenüber Vans bei weitem konkurrenzfähig.“

Ralf Bogdanski, Professor am Kompetenzzentrum Logistik der Technischen Hochschule Nürnberg (TH) sieht einen komplett neuen Markt entstehen: „Lastenräder könnten 30 Prozent des urbanen Güterverkehrs ausmachen.“ Bis zu 8.000 Fahrzeuge im Jahr könnten allein die Paketzusteller einsetzen. Interessant seien die Räder aber auch für die Auslieferung anderer Kleinunternehmer – etwa für Apotheken oder Handwerksbetriebe, sagt Bogdanski. „Rechnet man alles zusammen, kommt man auf fünfstellige Zahlen.“

Technische Hürde: Herkömmliche Bauteile sind oft ungeeignet

Doch bevor die „goldenen Zeiten“ für gewerbliche Lastenräder anbrechen, gibt es noch einige Unsicherheiten und Hürden. Eine davon ist die Technik. „Lastenräder sind primär auf den privaten Einsatz ausgelegt“, sagt Bogdanski. Einmal am Tag zur Kita und zum Supermarkt, und dann ab in die Garage. „Aber im gewerblichen Einsatz muss ein Fahrer rund 110 Mal am Tag anhalten“, sagt Bogdanski. Allein die Ladung wiege bis zu 200 Kilogramm, mit Fahrer und Rad können es mehr als 400 Kilogramm werden. „Das kann nicht funktionieren“. Bei den acht Lastenrädern, die er in einem zweijährigen Testlauf untersuchte, habe es „hohe Reparaturkosten und lange Ausfallzeiten“ gegeben. „Pro Rad lagen die Reparaturkosten bei 2.000 bis 3.000 Euro“. Hautpursache: Reifenpannen, extremer Bremsenverschleiß, Lagerschäden, Ausfall von Akkus. Kein Wunder, meint Bogdanski. „Bislang werden in der Regel vorhandene Bauteile für Fahrräder verbaut.“

Seit 2017 entwickelt Bogdanski gemeinsam mit der Zweiradeinkaufsgenossenschaft in Köln und dem Ingenieurbüro B und P Mobility Engineering ein „logistikgerechtes Lastenrad.“ Zusteller und TH-Mitarbeiter testen mit den Prototypen Anfahren am Hang oder Wenden auf der Stelle und führen sogar Elchtests durch, die etwa die Kippsicherheit überprüfen. Vieles also, was an die Entwicklung von Motorfahrzeugen erinnert. Für Bogdanski ein Blick in die richtige Richtung. „Um stabile Räder zu bauen, bietet es sich an, auf Teile aus der Motorrad- und Motorrollerproduktion zurückzugreifen.“

Logistik-Lastenrad: Lernen von der Automobilindustrie

Einige Hersteller tun dies bereits jetzt. Einer der bekanntesten davon ist ONO. Für ein Pilotprojekt in Berlin baute das Start-up zwei Prototypen, die seit August 2019 im Einsatz sind. Gabelschäfte und Steuerradsätze stammen aus Baugruppen von Motorollern, ebenso wie Reifen und Speichen. Für Philipp Kahle, technischer Geschäftsführer (CTO) von ONO ist dies jedoch kein Muss. So stammten die Bremsen ihrer Räder aus dem Fahrradbau. „Es gibt durchaus Bauteile, die solchen Anforderungen aushalten. Manchmal muss man sie nur ein wenig modifizieren.“

Was modifiziert werden müsse, ergebe sich oft von selbst, wenn die Zielstellung klar definiert ist, sagt Kahle. Der studierte Fahrzeugtechniker arbeitete zuvor in der Automobilbranche. Von dort brachte er einen Grundsatz mit: „Man muss von der Anforderung an die Sache herangehen.“ Ein Novum in einem Markt, der bislang vor allem aus kleinen Unternehmen besteht, die teils wie Manufakturen arbeiten: Erstmal machen, dann verkaufen. Doch Verbandsmann Seißler sieht darin kein Problem. „Die Firmen, die bei uns organisiert sind, sind äußerst innovativ. In dem Moment, in dem ein Paketdienstleister 1.000 Räder bestellt, wird es auch jemanden geben, der das finanziert. Und dann werden die entsprechenden Kapazitäten aufgebaut.“ Räder bauen werde aber auf Dauer nicht reichen, sagt Bogdanski: „Ein Logistikunternehmen will sein ausgefallenes Fahrzeug nicht selbst reparieren. Im Nutzfahrzeugbereich ist es Standard, dass dafür ein Service angeboten wird.“

Bei ONO denke man bereits in diese Richtung, sagt CTO Kahle. „Wir werden eine Produktionsstraße aufbauen, mit der wir große Stückzahlen in gleichleibender Qualität liefern können. Und einen Service, um Kunden bei etwaigen Ausfällen in kürzester Zeit adäquaten Ersatz bereitzustellen.“

Braucht es für das Lastenrad eine neue Fahrzeugklasse?

Noch ungeklärt bleibt die Frage: Was genau bedeutet das eigentlich – Rad? Werden Lastenräder flächendeckend gewerblich eingesetzt, braucht es vielleicht auch auf diese Frage neue Antworten. „Heute wird gebaut, was die Straßenverkehrszulassungsordnung hergibt – und das ist sehr viel“, sagt Bogdanski. Die Abmaße einiger Modelle sieht er darum problematisch „Manches davon ähnelt einem Kleinwagen.“ Solange es nur einige wenige davon im Einsatz seien, sei dies wohl kein Problem, meint auch der Konstanzer Radbeauftragte Gaffga: „Aber mittelfristig könnten wir damit auf den Radwegen Probleme bekommen.“ Er hält darum die Einführung einer neuen Fahrzeugklasse für sinnvoll. Auch wegen der Motorisierung. Denn Pedelecs dürfen nur Elektromotoren mit maximal 250 Watt Leistung verwenden. Für ein Fahrrad, das 500 Kilogramm wiegt, sei das nicht ausreichend, meinen mehrere Experten. Bogdanskis Vorschlag für gewerblich eingesetzte Räder: eine Begrenzung auf ein Meter Breite und drei Meter Länge, ein zulässiges Maximalgewicht von 500 Kilogramm, eine Höchstgeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern, und die Erlaubnis für 750 Watt Leistung für Beschleunigungszwecke.

ONO-CTO Kahle sieht dies skeptisch. „Unsere Vorgabe war ein Ladevolumen von zwei Kubikmetern – damit die Fahrer nur einmal am Tag laden müssen.“ Und bei den Testläufen hätten die E-Cargo-Räder keine Probleme auf Fahrradwegen gehabt: „Die kamen sogar durch Poller hindurch“. Eine stärkere Motorisierung findet er zwar nützlich, die Einführung einer neuen Fahrzeugklasse eher nicht. „Die Vorteile von E-Cargo-Rädern wie unseren sind die Führerscheinfreiheit und die Möglichkeit, Radwege nutzen zu können. Wenn man argumentiert, dass elektrisch unterstützte Cargo-Räder rechtlich nicht mehr als Fahrräder gelten, könnten diese Vorteile wegfallen“, sagt Kahle: „Wir brauchen einen Dialog mit der Politik und keine Schnellschüsse.“ Regelmäßig trifft er sich darum mit Politikern, gemeinsam mit anderen Unternehmen des Radlogistikverbands. Und auch dessen Mitgründer Seißler möchte gern, „dass Fahrräder Fahrräder bleiben“.

Nicht nur die Radbauer müssten weiterdenken, sondern auch die Kommunen, sagt Gaffga: „Wir müssen uns noch mehr Gedanken über die Infrastruktur der Städte machen. Das muss jede Kommune individuell lösen. Dazu gehören zentrale Plätze für Mikrodepots, Raum zum Halten und Parken. Aber auch Fahrradstraßen – dort könnten dann auch große Räder problemlos fahren.“ Letztlich ginge es doch nicht um Fahrräder, meint Seißler: „Der entscheidende Punkt ist doch: Wir brauchen kleine Fahrzeuge, die wenig Energie verbrauchen.“

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